Letzte Argumente
Gedenkschrift für Ulrich Wienbruch
von Dietmar David Hartwich und weiteren, herausgegeben von Kathi Beier, Falk Hamann und Norbert MederAuszug
Kathi Beier, Falk Hamann, Norbert Meder Einleitung I. Dieser erste Teil der Einleitung beruht auf Erinnerungen an die letzten zwei/drei Jahre im Leben von Ulrich Wienbruch, die ich, Norbert Meder, habe. Seinen 80. Geburtstag feierte Ulrich noch in vollem Lebensgenuss und in großer Gesellschaft seiner Familie, d. h. der Familie seines schon verstorbenen Zwillingsbruders, und seiner engsten Freunde, die zumeist auch Schüler von ihm waren. Die Familie seines Bruders war auch seine Familie, und er pflegte den Kontakt. Unter seinen Freunden war Klaus Diener sein ältester Freund, den er schon aus Schulzeiten kannte. Nachdem Ulrich von Köln nach Arnsberg ins Altersheim der Caritas übersiedelte, war es Klaus Diener, der in Arnsberg wohnte und Ulrich oft mehrmals wöchentlich besuchte. Er hat Ulrich in seinen letzten drei Jahren in seinen Tod begleitet. Dafür sei ihm hier Dank gesagt. Ich selbst habe ihn etwa einmal im Quartal besucht. Ulrich hat noch lange nach seiner Emeritierung weiter Vorlesungen gegeben. Seine letzte Vorlesung – irgendwann vor seinem 80. Geburtstag – artikulierte das Resultat seines lebenslangen Philosophierens. Ich, der ich wusste, dass es seine letzte Vorlesung sein würde, besuchte sie, wann immer ich konnte. Am Ende drängte ich ihn, daraus sein letztes Buch zu machen: Subjektivität und Wirklichkeit. Er wollte es eigentlich nicht. Er gab mir vielleicht nur deshalb nach, weil ich sein Freund war und vor allem sein Schüler, der sein Denken – wenn auch kritisch – tradieren konnte. Vorüberlegungen zu der philosophischen Problematik, die ich in dieser Gedenkschrift zu einem gewissen Abschluss gebracht habe, habeich ihm 2016 vorgelegt – also drei Jahre vor seinem Tod.1 Mir war klar, dass ich in diesem Aufsatz sein Denken angegriffen habe. Das machte nichts – wir haben immer gestritten. Das war die Basis unserer Freundschaft. Als ich ihm das Buch 2016 übergab und ihn bat, meinen Text kritisch zu lesen, wusste ich schon, dass er für sich das Philosophieren beendet hatte. Er las trotzdem meinen Text. Als ich ihn dann ein Quartal später wieder besuchte und nach seinem Urteil fragte, sagte er nur, der Text sei gut. Auf eine inhaltliche Auseinandersetzung wollte er sich nicht mehr einlassen. Er hatte mit der Philosophie abgeschlossen. Was er mir aber noch freundschaftlich zurückmelden wollte, war dies, dass handwerklich an meinem Text nichts auszusetzen war – typisch Ulrich. Das war unser letzter wissenschaftlicher Austausch. Danach gab es nur noch Alltagsgespräche. Oft fuhr ich ihn im Rollstuhl durch die Gegend, was er genoss. Aber dann zog er sich zunehmend in sich selbst zurück, kommunizierte nicht mehr und ließ sich – wie ich meine – sterben. Wenn ich ihn in dieser Zeit besuchte, war unser einziger Kontakt, dass ich ihn an der Hand fasste und den Eindruck hatte, dass er mir über seine Hand erwidert. Aber sicher bin ich nicht. Ulrichs Tod kam nicht überraschend, aber er hat mich dennoch extrem getroffen. Zum einen, weil Ulrich ein Mensch war, der mir das Philosophieren ‚beigebracht‘ hat. Und zum anderen, weil er darüber hinaus ein Freund war, der mir viel gegeben hat, was ich ihm nicht zurückgeben konnte, da er ein konstitutiv tragisches Leben führen musste.
1 Meder, Norbert: Philosophische Aspekte von Bildung als einem komplexen Relationengefüge. In: Dan Verständig/Jens Holtze/Ralf Biermann (Hrsg.): Von der Bildung zur Medienbildung. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 179-210.
II. Die Beitragenden zu dieser Gedenkschrift haben Ulrich Wienbruch alle persönlich gekannt. Norbert Meder und Manuel Schneider gehörten zu seinen Studenten und Schülern. Dietmar David Hartwich, CSJ, ist ein Schüler von Norbert Meder; neben Ulrich Wienbruch waren beide regelmäßig Vortragende auf den von der Communauté Saint Jean (CSJ) ins Leben gerufenen monastisch-universitären Kolloquien, die bis 2012 jährlich abwechselnd in Frankreich und in Deutschland stattfanden. Seit 2007 nahmen daran auch Henning Tegtmeyer und Peter Heuer teil. Vor allem aber setzen sich alle in ihren Beiträgen mit Themen auseinander, die Ulrich Wienbruch bis zuletzt interessiert haben:
Henning Tegtmeyer (Leuven) setzt sich mit einer bestimmten Form philosophischer Beweisführung auseinander, der so genannten Retorsion. Sie besteht darin, dass man einer Person, die einer Annahme widerspricht, nachweist, dass sie diese Annahme selbst notwendig zugrunde legen muss. Tegtmeyer stellt vier Beispiele für solche transzendentalen Argumentationen vor, die er bei Aristoteles, Descartes, Kant und P. F. Strawson findet. Zugleich diskutiert er die systematische Reichweite und die Grenzen dieser Retorsionen. Peter Heuer (Leipzig) behandelt den Begriff der Selbst- bzw. Eigenliebe und untersucht, inwiefern die Qualität dieses Selbstbezugs von anderen Formen der Liebe abhängt, nämlich der Liebe zu Gott und der Liebe zu unseren Mitmenschen. Illustrativ greift er dafür auf Figuren wie Julius aus Friedrich Schlegels Lucinde oder Narziss zurück, bei denen die zuletzt genannten Liebesformen auf die eine oder andere Weise gestört sind. Der Beitrag endet mit Überlegungen zur Bedeutung der Selbstliebe für ein gutes und gelingendes menschliches Leben. Norbert Meder (Köln) setzt sich mit der von Ulrich Wienbruch vertretenen These auseinander, dass es Transzendenz allein in der Immanenz des Bewusstseins gebe. Mit Richard Hönigswald argumentiert Meder, dass es sich genau umgekehrt verhalte: Jeder inhaltlich bestimmte Gedanke weise strukturell über sich hinaus auf etwas Transzendentes. Das erläutert er in Hinblick sowohl auf den Vollzugscharakter des Denkens als auch auf die Existenz des Gegenstandes, der uns im Denken stets auf eine bestimmte Weise gegeben ist. Die doppelte Transzendenz, die dem endlichen Denken innewohne, zeige, dass dieses Denken als Vollzug eines Organismus zu begreifen ist. Der letzte Beitrag dieses Bandes ist ein unveröffentlichter Text von Ulrich Wienbruch selbst. Es ist der von ihm gehaltene Vortrag auf dem zehnten und bisher letzten Kolloquium mit der CSJ in Köln im Jahr 2012. Darin bekräftigt und begründet Wienbruch seine in der Traditi-
on Kants stehende Überzeugung, dass der Begriff des Absoluten für das menschliche Denken nur eine regulative Funktion haben könne. Es gehe in der Philosophie nicht um die Erkenntnis des Absoluten, sondern vielmehr um „das ‚absolute‘ Erfassen von etwas.“
III. Wir sind uns absolut sicher, dass wir mit Ulrich Wienbruch über alle hier versammelten Argumente und Thesen trefflich hätten streiten können. Das ist nun leider nicht mehr möglich. Die Trauerkarte zu seiner Beisetzung enthält ein Zitat von Immanuel Kant. Wir wissen nicht, ob Ulrich es noch selbst ausgesucht hat. Gut möglich. Es stammt aus Kants Vorlesungen über Psychologie.2 Wir wollen es gerne ans Ende dieser Einleitung setzen. Es lautet:
2 Vgl. Immanuel Kants Vorlesungen über Psychologie. Mit einer Einleitung: Kants mystische Weltanschauung, hrsg. von Dr. Carl du Prel, Leipzig: Ernst Günthers Verlag 1889, S. 80.