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Narrativität – so die Ausgangsthese dieser Arbeit – ist
nicht eine Eigenschaft von Texten, sondern einer Art
von Verstehensprozessen. Was Romane und Comics,
Hörspiele und TV-Serien, mündliche Erzählungen und
Dramen, Kurzgeschichten und Balladen gemeinsam
haben, ist, dass sie narrativ verstanden werden. Welche
Konsequenzen diese These hat, wenn sie ernst genommen
wird, loten die drei Kapitel dieser Arbeit aus: sie
modellieren narratives Verstehen.
Denn dass es bei einer überwältigenden Zahl von Texten
einen Konsens darüber gibt, sie einer gemeinsamen
Klasse narrativer Texte zuzuordnen, dass es andererseits
aber außerordentlich schwierig scheint, eine Definition
für 'narrativ' zu finden, spricht dafür, dass es weit verbreitetes
implizites Wissen über die Gemeinsamkeiten
dieser Texte gibt. Und diese Gemeinsamkeiten sind nicht
eine Kernmenge übereinstimmender Textmerkmale,
sondern eine gemeinsame Art, verstanden zu werden.
Diese Arbeit versucht also nicht, die Klasse der 'narrativen
' Texte neu zu definieren; vielmehr geht es darum,
die Intension dieser relativ stabilen Klasse von Texten zu
explizieren.
Die Verwendung des kognitionspsychologischen
Schemabegriffs – so argumentiert das erste Kapitel – erlaubt
es, verschiedene Verstehensprozesse als voneinander
unterscheidbare und miteinander vergleichbare Akte
zu beschreiben; das ist eine notwendige Voraussetzung,
um überhaupt sinnvoll von narrativem Verstehen als
einer Art von Verstehensprozessen sprechen zu können.
Ziel des ersten Kapitels ist es, ausgehend von kognitionspsychologischen
Betrachtungen von Minsky, Schank/
Abelson und Rumelhart einen soliden Schemabegriff zu
entwickeln, der eine Basis für die Beschreibung narrativen
Verstehens bilden kann. Dafür wird einerseits auf
Überlegungen von Kant, Schütz und der Gestaltpsychologie
zurückgegriffen, um den Schemabegriff allgemein
zu schärfen, der andererseits in der Auseinandersetzung
mit existierenden erzähltheoretischen Vorschlägen u. a
von Branigan, Wolf und Fludernik den Bedürfnissen
der spezifisch narratologischen Fragestellung angepasst
wird. Das erste Kapitel entwickelt so einen Schemabegriff
für die Narratologie.
Das zweite Kapitel veranschaulicht an einem Fallbeispiel,
wie die Modellierung eines narrativen Verstehensprozesses
eines 'narrativen' Textes – hier C. S. Lewis’
The Lion, the Witch and the Wardrobe – auf der Basis
des entwickelten Schemabegriffs aussehen kann. Eine
detaillierte Analyse konzentriert sich darauf, an diesem
konkreten Beispiel diejenigen Elemente und Dynamiken
herauszuarbeiten, die spezifisch narrativem Verstehen
zuzurechnen sind, und die ein Modell narrativen Verstehens
entsprechend beschreiben können muss.
Das dritte Kapitel verallgemeinert, systematisiert und
begründet diese am Beispiel angestellten Überlegungen.
Ziel des dritten Kapitels ist es, ein allgemeines narratives
Schema zu entwerfen, das dazu verwendet werden kann,
alle individuellen narrativen Verstehensprozesse zu modellieren
und so über die Beschreibung des allgemeinen
Schemas und damit der Gemeinsamkeiten der individuellen
Akte narrativen Verstehens eine Explikation von
'narrativ' zu liefern. Die entwickelte Beschreibung
zeigt, wie die einzelnen Aspekte systematisch zusammenwirken;
gerade durch dieses spezifische Zusammenspiel
wird narratives Verstehen charakterisiert. Diese
Überlegungen münden in folgende Explikation: