Nägel von Laura Hird | Stories | ISBN 9783821808468

Nägel

Stories

von Laura Hird, aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben
Buchcover Nägel | Laura Hird | EAN 9783821808468 | ISBN 3-8218-0846-2 | ISBN 978-3-8218-0846-8

Nägel

Stories

von Laura Hird, aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben
Erst hielt ich ihn für einen Splitter, diesen dünnen Tintenstrichstengel unter dem Nagel meines rechten Zeigefingers. Ich wollte ihn mit einer Pinzette herausziehen, dann habe ich mit den Zähnen ein Streichholz angespitzt und darin herumgebohrt. Es hat alles nichts genutzt. Als er unter dem Nagel vorlugte, habe ich unaufhörlich daran geknibbelt und gezupft, aber irgendwann stand er schließlich zwei Millimeter über dem Nagel vor. Wie ein winziger Zweig aus schwarzer Haut sah er aus und wuchs auch im Nagelbett weiter, bildete zwei Wurzeln, die beide im Halbmond meiner Nagelhaut verschwanden. Als hätte sich ein Käfer oder ein Aal unter meine Haut gegraben. Dieses Etwas bestand zweifellos aus Fleisch, war aber ohne Gefühl. Anfangs habe ich nur mißtrauisch an der Spitze geknabbert und mich gehütet, richtig zuzubeißen, aus Angst, es könnte sich um einen bösartigen Leberfleck handeln, dessen Verletzung eine unstillbare Blutung auslöste. Aber irgendwann ärgerte ich mich dermaßen über diesen unwillkommenen Gast, daß ich die Spitze einfach abbiß. Es hat heftig geblutet, aber gespürt habe ich nichts; deshalb war ich erst recht sicher, daß dieses Ding kein Teil von mir, sondern etwas Fremdes war, das sich in meinem Körper eingenistet hatte.
Da mich die ganze Sache ziemlich mitnahm, machte ich einen Termin beim Arzt aus, sagte aber im letzten Moment wieder ab. Die Angst vor dem, was mich befallen hatte, war größer als die Angst vor dem, was es mir antun könnte. Ich zermarterte mir das Gehirn mit der Frage, was dieses Gebilde ausgelöst haben könnte. Was hatte ich gegessen, bevor es mir zum ersten Mal aufgefallen war? Wo war ich gewesen? Irgendwas Ungewöhnliches? Mir fiel nichts ein. Je mehr ich mich über meinen Zustand schämte, um so öfter ging ich Leuten aus dem Weg; ich wollte nicht, daß sich andere auf meine Kosten lustig machen. Es gab da ein paar Bekannte, die meine Lage bestimmt lächerlich finden würden. Ich bin nämlich schon immer sehr stolz auf meine Hände und Fingernägel gewesen und habe mich ständig um sie gekümmert. Meine Finger sind lang und schlank, die Hände einer Künstlerin, einer Klavierspielerin, und man macht mir ihretwegen oft Komplimente. Deshalb nehme ich es mit der Pflege auch sehr genau - benutze regelmäßig Feuchtigkeitscreme, achte besonders darauf, daß die Seife, die ich benutze, die Haut nicht austrocknet, halte die Nägel stets nur gut einen halben Zentimeter lang, feile sie täglich so gedankenlos, wie andere sie abbeißen, schiebe die Nagelhaut weit zurück und trage behutsam einen Nagellack von Yves Saint Laurent auf, Farbe Elfenbein, so daß die Nägel nie angemalt, sondern bloß kräftig und gesund wirken.
Selbst als Kind habe ich äußerst sorgsam auf meine Hände geachtet, erst recht, weil ich es eklig fand, wie meine Schwester Helen ihre Nägel bis auf die Kuppen abknabberte und mit den Zähnen die umliegende Haut abzog, bis sämtliche Fingerspitzen nur noch schorfige Eiterbeulen waren. Von ihren Fingern bekam ich Alpträume. Sie widerten mich an, genauso wie meine Schwester mich anwiderte, damals wie heute.