Traumreiche und Utamakura von Philipp Schlüter | Literarische Schwellenkonfigurationen in Marion Poschmanns Roman "Die Kieferninseln" | ISBN 9783863097547

Traumreiche und Utamakura

Literarische Schwellenkonfigurationen in Marion Poschmanns Roman "Die Kieferninseln"

von Philipp Schlüter
Buchcover Traumreiche und Utamakura | Philipp Schlüter | EAN 9783863097547 | ISBN 3-86309-754-8 | ISBN 978-3-86309-754-7

Traumreiche und Utamakura

Literarische Schwellenkonfigurationen in Marion Poschmanns Roman "Die Kieferninseln"

von Philipp Schlüter
Momente einer existenziellen Veränderung oder Krise, die den Alltag aus seiner Vertrautheit herausheben und den Zustand des Gewohnten erschüttern, scheinen das menschliche Verlangen nach fernen Orten, fremden Kulturen und unbekannten Landschaften zu begünstigen. Wenn das bisher Gewohnte keinen Halt mehr zu bie-ten scheint, kann sich mit einem Gefühl der Entwurzelung gleichfalls eine Öffnungsbewegung für das Neue, unbeachtete Ferne einstellen. Verschiebungen innerhalb der 'menschlichen Seelenlandschaft' rufen nicht selten den Wunsch nach einer Veränderung auch der äußeren, das Individuum umgebenden Geografie auf den Plan.
So erlebt es auch die Hauptfigur in Marion Poschmanns zuletzt veröffentlichtem Roman „Die Kieferninseln“ (2017). Gilbert Silvester hat geträumt, dass seine Frau ihn mit einem anderen Mann betrügt. Die in Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ und im Roman geäußerte Einsicht „Träume sind Schäume“ kann Gilbert nicht für seine eigene Wahrnehmung beanspruchen. Der Traum steht hier stellvertretend als Einbruch einer die Wahrnehmung verschiebenden Kraft, der mit logischen Schlüssen und aufgeklärtem westlichen Denken nicht beizukommen ist. Leserinnen und Leser treten mit Beginn der Lektüre bereits in einen literarischen Raum der Schwelle ein, in dem die Autorin Denkfiguren der deutschen Romantik aufgreift und diese mit dem literarischen Reisetagebuch „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ (1702) des japanischen Haiku-Dichters Matsuo Bashō in einen offenen Dialog treten lässt. Wie sich Heinrich im „Heinrich von Ofterdingen“ aufmacht, die blaue Blume zu finden, so legt Gilbert die vom Vollmond beschienene Schwarzkiefer an der Küste von Matsushima, deren Beschreibung in der japanischen Dichtung einen prominenten Platz einnimmt, als Reiseziel fest. Analog zu den alten japanischen Wanderpoeten, beginnt auch Gilbert seine Pilgerreise in Gesellschaft eines jungen Japaners.
Versierte literarische Strategien können über eine durch die Figur angezeigte Wahrnehmungsverschiebung, die durch eine Reise in einen anderen Zeichenraum auf Textebene entsteht, ein Gefühl für die Komplexität unterschiedlicher Weltbilder ermöglichen. Da für Marion Poschmann die Literatur „vorallem ein Medium der Wahrnehmung“ ist, bewahrt sich ihre Dichtung eine kunstvolle, uneindeutige Offenheit. Dieses poetologische Moment bestimmt auch die Struktur von „Die Kieferninseln“. Japan, das sich aus westlicher Perspektive als ein Palimpsest aus exotischen, eskapistischen und stereotypen Zuschreibungen zusammensetzt, wird hier zum erzählerischen Ort der Abweichung. Der Roman schärft den Blick für die eigenen, sich ständig reproduzierende Wahrnehmungsmuster auf die japanischen Kultur und zeigt zudem, wie eine Neuausrichtung des Blickes im Umfeld unbekannter Kultur- und Naturräume sowie eine Sensibilisierung für das kulturell Entgegengesetzte literarisch gelingen kann. Marion Poschmanns Art der literarischen Welterschließung ist „ziellos, nicht berechnend und womöglich unberechenbar, ohne Taktik; [sie] such[t] Bilder, die sich wieder auflösen, bevor sie endgültig Gestalt gewonnen haben“. Eine solchen Poesie bietet eine adäquate Annäherung an soziokulturelle Räume, von denen wir durch unsere Sprache und Weltansichten getrennt sind.
Die Autorin greift auf unterschiedliche sprachliche Strategien zurück, die den kulturellen Schwellenraum sowie eine daraus entstehende Wahrnehmungsverschiebung veranschaulichen. Zudem offenbart sich der Roman als ein Produkt ihrer eigenen Japanreise und ihrer in Anlehnung an Jun’ichirō Tanizaki („Lob des Schattens“, 1933) konzipierten Poetik „Lob des Nebels“. Weiter tragen der Inhalt des von Marion Poschmann veröffentlichten Bandes „Mondbetrachtung in mondloser Nacht“ (2016), welcher verschiedene poetologischen Überlegungen versammelt, sowie die Lyrik-Sammlung „Geliehene Landschaften“ (2016) zu einem breiteren Verständnis der Romanstruktur bei.
Die Hauptfigur Gilbert strebt nach dem an Bashōs Werk ausgerichteten Zustand eines reinen Schauens. Die dichterische Vorvermittlung durch die intratextuelle Lektüre von „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ schärft im Voraus den Blick für die Schwarzkiefer. Am Zielort angekommen, will Gilbert das Wesen der Bäume in ihrem Habitus durchdringen, um über diese Betrachtungsschärfe in den Zustand einer erkenntnisfördernden Gesamtwahrnehmung zu gelangen. Äquivalent dazu sei auf Marion Poschmanns eigene Wahrnehmung nach einer Teezeremonie verwiesen: „Auch als wir uns verabschiedet haben, bleibt die Stille dieser Teeschalen um uns herum. […] sie hat unsere Bewegungen verfeinert.“ Es geht um eine Sinnesverfeinerung, die durch das wertfreie, kontemplative Anschauen ungewohnter Objekte und fremder Landschaften sowie durch eine Literatur, die solches thematisiert, herbeigeführt werden kann. Die symbolische Ambivalenz des Mondes zeigt sich im auf Figurenebene als weitere Strategie einer Wahrnehmungsverschiebung und der Infragestellung. Die von Marion Poschmann gesetzte Gesamtheit dieser literarischen Schwellenkonfigurationen dient dazu, sich selbst in Frage zu stellen – sowohl auf figurativer als auch auf rezeptionsästhetischer Ebene.
Es zeigt sich, dass der Autorin mit „Die Kieferninseln“ exakt das gelingt, was sie theoretisch in poetologischen Aufsätzen und Überlegungen niedergelegt hat: nämlich ganz genau hinzuschauen, die offenen Übergänge in den Erscheinungen literarisch sichtbar zu machen sowie aus dieser Erkenntnis einen literarischen Schwellentext zu konstruieren, der Leserinnen und Leser in ihren eigenen Wahrnehmungen von Welt immer wieder herausfordert und das Fremde und uns Ferne schriftstellerisch als alles andere als eindeutig inszeniert.