Das Jünger-Proust-Prinzip von Johannes Birgfeld | Zur dritten Balkonszene in Christian Krachts Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« | ISBN 9783865259714

Das Jünger-Proust-Prinzip

Zur dritten Balkonszene in Christian Krachts Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«

von Johannes Birgfeld
Buchcover Das Jünger-Proust-Prinzip | Johannes Birgfeld | EAN 9783865259714 | ISBN 3-86525-971-5 | ISBN 978-3-86525-971-4
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Das Jünger-Proust-Prinzip

Zur dritten Balkonszene in Christian Krachts Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«

von Johannes Birgfeld
Das literarische Werk des Schweizer Autors Christian Kracht ist ohne Zweifel eines der bemerkenswertesten der Gegenwart: Immer hervorragend lesbar und auf der Oberfläche im besten Sinn ›light entertainment‹, entpuppen sich insbesondere seine Romane beim verweilenden Blick als brillant-funkelnde Rätselstücke, die die Leser: innen in ein Labyrinth aus Verweisen und Querverbindungen einladen und dabei äußerst ernsthaft einen ernüchterten, vernichtenden Blick auf die Menschheits- und Zivilisationsgeschichte werfen.
Wie sehr seine Romane genaue Lektüren verdienen, weil sie hochkünstlerisch gearbeitet sind, versucht die hier vorliegende Studie am Beispiel einer zentralen Szene aus dem 2008 erschienenen Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« zu verdeutlichen: In dieser Alternativweltgeschichte endet der Erste Weltkrieg nicht 1918, sondern geht bereits in sein 96. Jahr. Die häufig zitierte dritte Balkonszene, die hier im Fokus steht, spielt während des Bombardements der zentralen Festung der Schweizer Sowjetrepublik durch deutsche Zeppeline und ist Ausgangspunkt einer Revolution, in der große Teile der Menschheit der modernen Zivilisation den Rücken kehren und in die Savannen Afrikas verschwinden.
›Die dritte Balkonszene‹ dient hier als Beispiel dafür, wie konsequent und literarisch komplex Kracht in diesem Roman über das 20. Jahrhundert erzählt, in dem er Szenen durch die Verschmelzung von intertextuellen Elementen und Zitaten – etwa aus Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« und Ernst Jüngers Pariser Tagebuch von 1944 (»Strahlungen«) – konstruiert und damit eine Potenzierung, ja fast schon Totalisierung der Deutungsebenen erreicht.