Abwegig – Überleben und Therapie bei ritueller Gewalt. von Helen Lindstrøm | ISBN 9783893346011

Abwegig – Überleben und Therapie bei ritueller Gewalt.

von Helen Lindstrøm und Jutta Sniehotta
Mitwirkende
Autor / AutorinHelen Lindstrøm
Autor / AutorinJutta Sniehotta
Buchcover Abwegig – Überleben und Therapie bei ritueller Gewalt. | Helen Lindstrøm | EAN 9783893346011 | ISBN 3-89334-601-5 | ISBN 978-3-89334-601-1

Abwegig – Überleben und Therapie bei ritueller Gewalt.

von Helen Lindstrøm und Jutta Sniehotta
Mitwirkende
Autor / AutorinHelen Lindstrøm
Autor / AutorinJutta Sniehotta
Die Eltern brachten ihr Mädchen von Geburt an mit in ihre Sekte. Es war so bestimmt und vorgesehen. Da der Vater eine hohe Position und bestimmte Aufgabe in dieser Sekte innehatte, war auch die Entwicklung seiner Tochter von entschei- dender Bedeutung. Von klein auf, im Säug- lingsalter, wurde die Tochter „trainiert“. Sie wurde darauf trainiert, starke psychische und körperliche Schmerzen auszuhalten. Im Alter von 1-3 Jahren für Stunden alleine in einem dunklen Raum zu sein und nicht zu weinen, aber stark und tapfer zu sein. Denn erst dann durfte die Tochter wieder aus diesem Raum heraus.
Vor allem wurde sie gelehrt, sich abzuspalten. Ihr wurden Schmerzen und Leid angetan, so lange bis klar war, dass sie dissoziiert. Die Trainer in dem Kult verstanden sich sehr gut darin und konnten sehr leicht erkennen, wann ein Säugling, ein Kleinkind, ein Kind oder überhaupt ein Mensch dissoziiert. Denn die Fähigkeit des Dissoziierens zu nutzen ist der Vorteil der Täter. Sie schufen bei dem Mädchen bestimmte Anteile, gaben diesen einen Namen und „erschufen“ sie für grausame Aufgaben.
Dieses Buch ist aus der gemeinsamen Arbeit von Klientin und Therapeutin entstanden. Für die Therapeutin war die Arbeit mit der Klientin und deren Innenanteilen Neuland. Sie schreibt in ihrem Vorwort: „Als ich sie kennen lernte, hatte ich 20 Jahre Berufserfahrung im stationären und ambulanten Bereich, und mir war noch nie eine Patientin oder ein Patient mit einer multiplen Störung begegnet – dachte ich. Heute zweifle ich manchmal daran, denn ich hatte ja einfach nicht die kognitiven Schemata, um dissoziative Phänomene und Wechsel von Persönlichkeitsanteilen zu erfassen. Ich hatte über die dissoziative Identitätsstörung gelesen und kannte die kontroversen Diskussionen über die Echtheit der Erinnerungen der Betroffenen. Im Innersten war ich davon überzeugt, dass die dissoziative Identitätsstörung ein in der Therapie entstandenes, zum Teil vom Behandler durch die hohe Suggestibilität traumatisierter PatientInnen mit erzeugtes und aufrecht erhaltenes psychisches Krankheitsbild sei.
Die intensive Arbeit mit Frau L. lehrte mich, anders wahrzunehmen und zu verstehen. Ich lernte, was schweres Leid mit einem Menschen macht und mit welchen psychischen Mitteln er oder sie überleben kann. Die Zersplitterung der Identität ist vielleicht die einzige und sehr funktionale Lösung der Seele, furchtbare Traumatisierungen einigermaßen adäquat zu überstehen.
In der therapeutischen Auseinandersetzung mit den Persönlichkeitsanteilen von Frau L. wurde ich mit Erinnerungen dieser Anteile konfrontiert, in denen sich grauenhafte Erlebnisse widerspiegeln. Die Anteile ließen mich – nachdem über eine lange Phase Vertrauen aufgebaut werden musste – teilhaben, ich war in den Flash- backs oft „Zeugin“ von Quälereien, die der Zersplitterung oder Programmierung dienten. Es war für mich kaum vorstellbar, was Menschen anderen Menschen antun, um sie für ihre Ziele gefügig zu machen. So fragte auch ich mich immer wieder: „Kann das überhaupt sein? Das ist so unvorstellbar und abwegig... Aber ich ließ mich darauf ein. Heute bin ich froh, den Mut aufgebracht zu haben, Frau L. bei ihrer Befreiung aus dem Kult zu begleiten.”