Lebenserinnerungen von Hugo Rosenthal | ISBN 9783895343780

Lebenserinnerungen

von Hugo Rosenthal, herausgegeben von Micheline Prüter-Müller und Peter Wilhelm A. Schmidt
Mitwirkende
Autor / AutorinHugo Rosenthal
Herausgegeben vonMicheline Prüter-Müller
Herausgegeben vonPeter Wilhelm A. Schmidt
Buchcover Lebenserinnerungen | Hugo Rosenthal | EAN 9783895343780 | ISBN 3-89534-378-1 | ISBN 978-3-89534-378-0
Autorenvorstellung 1
1. Juden-Historiker 2. Zeithistoriker 3. Lipper

»Das Hermannsdenkmal, der Teutoburger Wald, die Römerschlacht waren erste nationale Begriffe für mich. Hier in diesen Wäldern hatten meine Väter, nur mit Fellen bekleidet, gehaust, den Bären gejagt, Bier getrunken und Würfel gespielt« – so kann es nur ein echter Lipper erzählen, so kann es nur ein echter Lipper glauben. Geschrieben wurde es von dem 1887 in Lage geborenen Hugo Rosenthal, der sich nach der Emigration nach Palästina Josef Jashuvi nannte. Rosenthal hatte nach dem Ersten Weltkrieg publizistisch und in praktischer Tätigkeit als Pädagoge in Deutschland gearbeitet, vom Herbst 1933 bis zum Frühjahr 1939 das jüdische Landschulheim Herrlingen geleitet und nach seiner Emigration ab 1940 in Haifa das Kinderheim »Ahawah« aufgebaut. 1947 blickte er von Haifa aus zurück auf seine Kindheit und Jugend in Lippe und Ostwestfalen, voller Sorge in einem Land, das sich in naher Zukunft zum Staat konstituieren und seinen ersten Krieg führen sollte.
Die »Lebenserinnerungen« Rosenthals liegen als Manuskript in der Gedenkstätte Yad Vashem vor. Ihre Edition hatte der vor fünf Jahren verstorbene Detmolder Pädagoge Wolfgang Müller initiiert, sie wurde von seiner Frau, Micheline Prüter-Müller, und dem Weingartener Politologen Peter Wilhelm A. Schmidt verwirklicht. Im November 2000 konnte der mit einfühlsamer Einleitung und kluger Annotierung versehene Band im Beisein der beiden noch lebenden Kinder Rosenthals in seiner Geburtsstadt vorgestellt werden.
Lage war auch der erste Ort dieses Lebens in einer Familie, in der Rosenthal das mittlere Kind in einer Reihe von neun Geschwistern war. Von den Eltern, dem Großvater, den Geschwistern, von Nachbarn und Spielgefährten, von der Stadt und der lippischen Landschaft gibt er eindrucksvolle Schilderungen. Der Vater sorgte als Lumpen- und Flachshändler für einen bescheidenen Wohlstand, der sich im Besitz eines Ackerbürgerhauses und einer kleinen Landwirtschaft zeigte. Die unermüdlich arbeitende Mutter vermittelte dem Kind dazu ein religiöses Grundvertrauen, das später nie mehr erschüttert werden konnte. Nach einem Umzug nach Herford aber brach das Verhängnis über die Familie herein, als der Vater, geschäftlich ruiniert, plötzlich verschwand. Der soziale Abstieg war unvermeidlich und führte zuletzt zurück nach Lage ins dortige Armenhaus. Auch die Existenz in der »Welt der Armut, des Hungers und der Krankheit« zeichnet Rosenthal mit klaren Strichen und zeigt exemplarisch, dass die Armut entgegen dem Allgemeinplatz doch schändet.
Irgendwann kehrte der Vater zurück, ohne dass Rosenthal dieses Ereignis einer eigenen Betrachtung für Wert hält. Die Familie zog jetzt nach Bielefeld, wo sich der Vater als Arbeiter verdingte, u. a. auch bei den Fahrradwerken Dürkopp. Verschiedene Umzüge markieren nicht nur einen langsamen sozialen Aufstieg, sondern verleiten Rosenthal zu ausgedehnten, teils freiwilligen, teils durch verschiedene Hilfsarbeiten notwendigen Streifzügen durch die Stadt, an denen er die Leser so viele Jahre später noch einmal teilhaben läßt.
Der Aufstieg ermöglicht auch den Besuch der Mittelschule. In Schule und jüdischer Gemeinde wurde Rosenthal durch einen Mann geprägt, dem er ein ehrendes Andenken bewahren sollte: den Rabbiner Dr. Coblenz. Dessen Rat und dem Vorbild des älteren Bruders Karl folgend, zu dem er ein merkwürdiges, von gegensätzlichen Gefühlen bestimmtes Verhältnis hatte, entschied sich Rosenthal zu einer Ausbildung zum Lehrer, auch wenn er sich selbst hier noch weit von seiner späteren pädagogischen Berufung entfernt sah. Vom berühmten Lehrerseminar der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster, das mehrere Generationen jüdischer Lehrer ausgebildet hatte, zeichnet Rosenthal allerdings kein positives Bild, es hatte den Zenit seiner Bedeutung offensichtlich überschritten.
Der Ausbildung folgten der Wehrdienst im lippisch-ostwestfälischen Infanterie-Regiment No. 55 in Bielefeld, sodann, wieder dem Bruder Karl folgend, die ersten Lehrerstellen in Gütersloh und im schlesischen Grünberg. Kurz vor dem Weltkrieg lernte er in Berlin eine junge Pianistin kennen, die Dortmunderin Betty Goldschmidt, die seine Ehefrau werden sollte. Der Bruder Karl hatte inzwischen eine neue Lehrerstelle in Dortmund erhalten. Zu seiner Hochzeit mit der Detmolderin Trude Schuster am 30. Juli 1914 war auch Hugo Rosenthal angereist. Am nächsten Tag erhielt er seinen Gestellungsbefehl, und »am 9. August marschierten wir in Belgien ein.«
Mit dem Beginn des Krieges, in dem zwei seiner Brüder ihr Leben verloren, enden Rosenthals »Lebenserinnerungen«. Die späteren Etappen als Pädagoge in Frankfurt und Wolfenbüttel und die Tätigkeit als Autor der pädagogischen und der zionistischen Publizistik kommen in diesem Text ebenso wenig vor wie die privaten Veränderungen in der Nachkriegszeit: die Heirat, die Geburt der Kinder, die Ausbildung zum Gärtner als Vorbereitung für die Emigration, die erste Auswanderung nach Palästina selbst und die Rückkehr. Aber die Prägung des Kindes und des Jugendlichen wird in diesen Aufzeichnungen sichtbar, die Entwicklung eines deutschen Juden – nicht mit ganz neuen Erkenntnissen, aber mit verändertem und auch beim Autor selbst sich mehrfach veränderndem Blickwinkel. Es ist der Rückblick eines ihrer Angehörigen, der sich noch einmal der in der wilhelminischen Zeit entwickelten Identität seiner Minderheit vergewisserte, bevor diese in der Nachkriegszeit in Frage gestellt und ab 1933 zerschlagen wurde.
Natürlich stellt sich die Frage nach dem Antisemitismus auch in jener Vorkriegsepoche. Er war immer spürbar. In Lage eher verhalten, wo sich die wenigen Juden irgendwie als Verwandte akzeptiert, aber »doch nicht so ganz voll angesehen« fühlten, trotz der verschiedenen Vereinsmitgliedschaften des Vaters, die Rosenthal ins Feld führt. Nicht spürbar war er in Münster und später im weltläufig toleranten schlesischen Grünberg. Dafür um so mehr in Gütersloh, jener »Stadt des Muckertums und der Bigotterie«, deren evangelische Bevölkerung Rosenthal als geschlossen antisemitisch einstufte. Nicht spürbar war der Ungeist offenbar auch auch in der Arbeiterstadt Bielefeld. Gerade deshalb aber traf ihn und trifft die Leser heute die Wandlung des Bielefelder Jugendfreundes um so mehr, eines Metzgers, der nach dreißigjähriger enger Freundschaft plötzlich seine völkische »Identität« entdeckte und zum Ludendorff-Anhänger und Antisemiten wurde.
Das Schlüsselerlebnis war für Rosenberg jedoch ein anderes. Wie dem aus dem Paderborner Land stammenden Pädagogen und Schriftsteller Jakob Loewenberg einst die Akzeptanz als Deutscher durch einen preußischen Schulrat verweigert wurde, so trat Rosenthal in Gütersloh ein preußischer Amtsgerichtsrat entgegen. Dieser ließ ihn nicht als Schöffe zu, weil »der Jude wesensmäßig ein anderer sei als der Deutsche.« Während Loewenberg für seine deutsche Identität gekämpft hatte, akzeptierte Rosenthal die ablehnende Argumentation. Hier ist der Wendepunkt, an demRosenthal endgültig zum Zionisten wurde und seine Zukunftspläne auf Palästina richtete.
Ob es allerdings die Rettung jüdischer Identität bedeutet, selbst nationalistisch und damit »normal« wie andere Völker zu werden, darf man bezweifeln. Es spricht für Rosenthals Offenheit, dass er noch dreissig Jahre später einen seiner Grünberger Schüler zu Wort kommen ließ, der darauf hingewiesen hatte, dass »aller Nationalismus in sich die Keime zu Gewalttat und Unterdrückung« trage, und dass es für das Judentum keinen Grund gebe, zu dieser »primitiven Gemeinschaftsstufe« zurückzukehren. Wie sehr Hugo Rosenthal/Josef Jashuvi diese Fragen bis zuletzt umtrieben, bezeugte sein Sohn Uriel anläßlich der Vorstellung der »Lebenserinnerungen« mit dem Hinweis, daß beim Tode des Vaters im Jahre 1980 auf dem Tisch aufgeschlagen Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung« gelegen habe.
Andreas Ruppert, in: Lippische Mitteilungen 70, 2001

An veröffentlichten Memoiren von Juden deutscher Herkunft herrscht nicht gerade ein Mangel. Diese schöne Edition der Lebenserinnerungen von Hugo Rosenthal ist dennoch von großem Wert für jeden, der sich für jüdisches Leben in der Region interessiert. Zum größten Teil schildert sie Kindheit und Jugend des Autors in Westfalen, gelegentlich gebrochen durch Reflexionen über die konfliktreiche Koexistenz von Juden und Palästinensern zur Zeit der Niederschrift 1947. Mit Rosenthals Erinnerungen haben die beiden Herausgeber und zahlreiche andere ehrenamtliche Mitarbeiter nicht nur eine wichtige, sondern auch vorbildliche Edition vorgelegt. Nicht zuletzt ist das Buch mit seinen sinnvoll eingesetzten Fotos und der schönen Aufmachung auch eine sehr gelungene verlegerische Leistung. Christoph Nonn, in: Westfälische Forschungen 51, 2001

Lebenserinnerungen

von Hugo Rosenthal, herausgegeben von Micheline Prüter-Müller und Peter Wilhelm A. Schmidt
Mitwirkende
Autor / AutorinHugo Rosenthal
Herausgegeben vonMicheline Prüter-Müller
Herausgegeben vonPeter Wilhelm A. Schmidt
Der 1887 in Lage/Lippe geborene und 1980 in Haifa gestorbene Reformpädagoge Hugo Rosenthal (Josef Jashuvi) leitete von 1933 bis 1939 das jüdische Landschulheim Herrlingen und von 1940 bis 1956 das Kinderheim »Ahawah« (»Liebe«) in Haifa. 1947, im ersten Jahr des Unabhängigkeitskrieges, beschrieb er seine Kindheit und Jugend in Westfalen. Die 400 Manuskriptseiten, die sich in seinem Nachlaß in Yad Vashem befinden, stellen eine wichtige Quelle zur Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte dar. Seine »Lebenserinnerungen« werden erstmals ungekürzt veröffentlicht und durch eine umfassende Einleitung und erläuternde Anmerkungen erschlossen. https://www. regionalgeschichte. de/detailview? no=0378