Ich bin Vergangenheit und Gegenwart von Vera Friedländer | ISBN 9783896269300

Ich bin Vergangenheit und Gegenwart

von Vera Friedländer
Buchcover Ich bin Vergangenheit und Gegenwart | Vera Friedländer | EAN 9783896269300 | ISBN 3-89626-930-5 | ISBN 978-3-89626-930-0
Interessenten für jüdische Autobiographien

Ich bin Vergangenheit und Gegenwart

von Vera Friedländer

Auszug

Ich blicke auf ein bittersüßes Leben zurück. Beides habe ich geschmeckt, das Süße und das Bittere. Ich habe das in Honig getauchte Apfelstück am Abend von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrstag, gegessen, auf dass das neue Jahr süß und angenehm sein möge, und ich nahm von dem Bitterkraut auf dem Sederteller, um nicht zu vergessen, wie hart das Leben war und noch immer sein kann. Ich meine mein eigenes, das bittere und doch so schöne Leben. Viele glückliche Honigtage habe ich erlebt und solche, in denen ich glaubte, der Kummer würde mich um den Verstand bringen. Ich sage nicht, solches sei mir beschieden gewesen. Welches unaussprechbare Wesen sollte mir etwas gegeben oder genommen haben? Das Glück, das mir begegnete, waren Menschen, die ich liebte, waren Freunde und günstige Umstände. Den Kummer musste ich ertragen, weil ich eben diese Menschen verlor.
Eine Biografie folgt dem Ablauf der Zeit. Ich greife etwas wahllos in die Jahre. Einzelne Seiten aus dem Buch meines Lebens greife ich heraus. Mein Lebensweg ist daraus ablesbar, wenn auch nicht als chronologische Folge. Was fehlt, habe ich an anderer Stelle geschrieben, das Wichtigste in meinem autobiografischen Bericht über die Jahre bis 1945. Im Grunde enthält alles, was ich geschrieben habe, etwas von mir. Ich erfand Figuren und Geschichten und stattete sie mit dem aus, was ich gesehen, erlebt, gedacht und gefühlt habe. Und manche authentische Person habe ich abgebildet.
Es gab zwei Zäsuren in meinem Leben, die erste 1945, die zweite 1986. So entstanden drei Lebensphasen. 1945 endeten meine Mädchenjahre, 1986 die beste Zeit meines Lebens, danach gab es noch einen neuen Anfang.
Meine Kindheit und meine Mädchenjahre wurden geprägt durch die Shoa. Die große jüdische Familie, zu der ich gehörte, wurde deportiert, nur drei kamen aus Lagern zurück und Einzelne überlebten durch Emigration oder durch nichtjüdische Ehepartner. Die guten Tage, von denen es auch in jenen Jahren reichlich gab, wurden überschattet von der Sorge um meine von Deportation bedrohte Mutter und um meinen Vater, der ins Lager kam, weil er sich nicht von seiner jüdischen Frau scheiden ließ. Und gegen Ende dieser Zeit musste ich Zwangsarbeit unter SS-Aufsicht im Reparaturbetrieb von Salamander leisten. Diese erste Phase meines Lebens schloss mit dem Ende der Verfolgung und des Krieges.
Die zweite Phase begann nach einem kurzen Übergang mit der Aufnahme in die Vorstudienanstalt und den bald folgenden Studien und Forschungen. Am ersten Tag in der Vorstudienanstalt begegnete ich dem Mann, mit dem ich die zweite, die wichtigste Lebensetappe durchschritt. Es waren gute Jahre mit einem Mann, auf den ich bauen konnte, mit Kindern, die zu tüchtigen Menschen heranwuchsen, und mit Arbeit in einem für mich idealen Beruf.
Mein Mann starb 1986. Damit setzte die letzte Phase ein. Ich musste lernen, allein zu leben und nicht einsam zu werden. In dieser Zeit brach die Gesellschaft zusammen, die ich mitzugestalten versucht hatte, die sich aber weit von meinen Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft entfernt hatte. Und so ist die dritte Phase, meine Jetzt-Zeit, vom konkurrenzlosen Kapitalismus bestimmt und ich habe versucht, meinen Platz darin zu finden, ohne meine Ideale zu verleugnen.
Von allen Phasen meines Lebens berichte ich etwas, von der Bitternis mehr als von der Süße, obwohl sie sich im Gleichgewicht hielten. Jedoch das Bitterkraut macht mir mehr zu schaffen als der Honig. Das Glück habe ich angenommen wie ein wunderbares Geschenk, es war kein Problem damit verbunden. Aber mit Leid, Ärgernissen und Missachtung bin ich nie fertig geworden und darum neige ich dazu, vor allem davon zu erzählen.