Torkelnd um den Bodensee von Mike Bartel | Schräge Menschen in ihrem natürlichen Umfeld | ISBN 9783939408208

Torkelnd um den Bodensee

Schräge Menschen in ihrem natürlichen Umfeld

von Mike Bartel
Mitwirkende
Autor / AutorinMike Bartel
Zeichnungen vonBirgit Tanck
Buchcover Torkelnd um den Bodensee | Mike Bartel | EAN 9783939408208 | ISBN 3-939408-20-4 | ISBN 978-3-939408-20-8

Torkelnd um den Bodensee

Schräge Menschen in ihrem natürlichen Umfeld

von Mike Bartel
Mitwirkende
Autor / AutorinMike Bartel
Zeichnungen vonBirgit Tanck

Auszug

Wie mir ein Zuhörer den Einstieg verdarb und weshalb ich trotzdem auf ein Vorwort verzichtet habe.
Überlingen, Ortsteil Nußdorf. Das letzte Haus in der Straße. Vorn führt die Hirnverbrannten-Rennstrecke namens Bodensee-Radweg vorbei. Spazierengehen ist hier so entspannend wie ein Picknick auf der Autobahn. Hinterm Haus das krasse Gegenteil. Idylle pur. Grünpflanzen, Blumen, Naturstrand. Nichts zu hören außer dem Bodensee, wie er schmatzend das Ufer küsst. Es ist der Ort, an dem ich meine Lust am Schreiben wiederentdeckt und einen Hass auf Radfahrer entwickelt habe. Beides tut mir sehr gut.
Ich dachte eigentlich, das sei ein guter Anfang. Doch als das Buch noch im Entstehen, also gewissermaßen in seiner embryonalen Phase war, und ich den Abschnitt probehalber bei einer Lesung zu Gehör brachte, da erzeugte der pränatale Eingriff eines Zuhörers in mir auf einmal die Furcht vor einer Fehlgeburt. Fragte mich doch der Mann aus dem Publikum, was Radfahren mit Heiraten zu tun habe. Das irritierte mich, da ich doch gar nichts übers Heiraten geschrieben hatte und folglich auch nichts übers Heiraten vorgelesen haben konnte. Der ältere Herr beharrte jedoch darauf, aus meinem Text den besagten Zusammenhang herausgehört zu haben. Ich konnte mir das nur so erklären, dass er bei dem Wort Liebe gleich ans Heiraten gedacht hat (ältere Menschen tun das ja bisweilen noch) und dass er im weiteren Verlauf nicht mehr richtig zugehört hat (was eher typisch für Jüngere wäre), wodurch er kurzzeitig den Faden (meines Textes) verlor, und ihn genau in dem Moment wiederfand, als ich von Radfahrern las. Weil er diese Radfahrer sodann (fragen Sie mich bitte nicht weshalb) mit dem Heiratsgedanken verknüpfte, der freilich nur in seinem Kopf herumschwirrte, dachte er wohl, beides sei von mir, das Heiraten und das Radfahren. In wohlgesetzten Worten versuchte ich, das gedankliche Wirrwarr des Zuhörers zu entzerren und den Schmerz meiner vorzeitigen Geburtswehen auf ein erträglicheres Maß zu reduzieren. Mit mäßigem Erfolg. Er war nur schwer vom Heiraten abzubringen. Das übrige Publikum zeigte sich amüsiert. Zunächst. Nach einiger Zeit wurde es unseres gepflegten Aneinander-Vorbeiredens müde. Obwohl. es war ja nicht so, dass wir gar nicht weitergekommen wären. Wir hatten uns inzwischen immerhin in eine neue Frage verheddert. Zum wiederholten Male reckte er seinen rechten Zeigefinger in die Luft, gerade so hoch, dass ich nicht umhin konnte, ihm erneut das Wort zu erteilen. „Ist es nicht so“, begann er, „dass Schreiben das Leben beeinflusst? Oder umgekehrt? Irgendwie hängt doch alles mit allem zusammen, das Leben, das Schreiben. Was war denn bei Ihnen zuerst?“ „Ja, das Schreiben, das Leben“, wiederholte ich, um Zeit zu gewinnen, „das hängt natürlich zusammen, und ich denke, beides bedingt sich gegenseitig.“ Worauf er ohne vorherigen Einsatz seines Zeigefingers rief: „Aber was war zuerst?“ Ich weiß nicht mehr, was ich daraufhin alles erzählt habe, um ihn endlich ruhig zu stellen und ob die Zuhörerin neben ihm tatsächlich irgendwann seinen Mund zugehalten hat oder ob es nur so aussah. Aber wissen Sie: Wenn so etwas dabei herauskommt, dann fragt man sich als Autor schon, ob man den Anfang seines Buches nicht doch noch mal neu schreiben sollte.
In einem Dateiordner mit zurückgestellten Texten fand ich tags darauf folgende Passage:
„Es geschah auf dem Weg von Überlingen nach Allensbach. Beinahe hätte ein dummdreist in die Fahrbahn geschobenes Fahrrad meinen Kotflügel touchiert. Eine Millimeter-Entscheidung. Derweil setzte der Mann im Autoradio, der von alledem nichts mitbekommen hatte, seine Ausführungen ungerührt fort. „95 Prozent aller Bücher“, hörte ich eine Stimme dozieren, die jener des Literaturkritikers Denis Scheck sehr nahe kam, „sind Schrott“. „Na dann versuchen wir doch mal, die Quote auf 96 Prozent zu treiben“, sagte ich zu meiner Beifahrerin, fuhr rechts ran und notierte mir die ersten Sätze für dieses Buch.“
Das wäre eine andere Einstiegsmöglichkeit. Fatalerweise kommt auch hier ein Fahrrad vor. Und ich sehe schon vor meinem geistigen Auge, wie der ältere Mann aus dem Publikum mich wieder ganz entgeistert anschaut und fragt, wo denn hier die Liebe bliebe. Und ob Denis Scheck verheiratet sei.
Da fiel mir eine Textpassage ein, die ich ursprünglich als Vorwort vorgesehen hatte, bevor ich mich entschloss, aufs Vorwort zu verzichten. Immer mehr Literaturexperten empfehlen neuerdings, auf ein Vorwort zu verzichten. Man möge, so proklamieren sie, dem Leser das einleitende Gelaber zu ersparen (zumal er es sowieso schon bald wieder vergessen haben dürfte), sich nicht lange mit Einführungen, Erläuterungen und Hinweisen aufhalten, die in der Mehrzahl der Fälle schlichtweg überflüssig seien, sondern sofort und ohne Umschweife und überdies auch unter Vermeidung irrwitzig langer Schachtelsätze direkt zur Sache zu kommen. Das leuchtete mir ein.
„Nußdorf“, so beginnt das Vorwort, das ich wohlweislich gestrichen und nur noch nicht von meinem Laptop gelöscht habe, „ist die Heimat von Martin Walser.“ Dann folgen die Sätze: „Meine Ferienwohnung befindet sich nur wenige hundert Meter vom Wohnhaus des berühmten Schriftstellers entfernt. Ich halte mich seit etlichen Tagen in seiner Nähe auf. Das blieb nicht ohne Folgen. Meine Augenbrauen sind schon buschiger geworden. Und ich habe wieder Lust aufs Schreiben bekommen.“ Das ist schon alles. Ein Abschnitt kurz und knapp und vor allem: frei von Radfahrern, die einen immer gleich ans Heiraten denken lassen.
Vielleicht ist es am Besten, wenn wir uns jetzt einfach mal darauf verständigen, dass wir am Bodensee sind. Vor dem eingangs erwähnten Gebäude. Und ich geh dann mal rein. Dort begebe ich mich als Erstes ins Badezimmer, obwohl ich nicht weiß, ob es üblich ist, eine Hausbeschreibung im Badezimmer zu beginnen. Noch dazu in einem Badezimmer, in dem keine Leiche liegt. Aber Sie halten hier ja auch keinen jener unzähligen Regionalkrimis in Händen, die sich in den vergangenen Jahren wie die Karnickel vermehrt haben und nun durch sämtliche Buchhandlungen hoppeln. Dieses Badezimmer ist blitzblank, frei von Blutspuren und erinnert von der Größe her an Zug-Toiletten. Es ist so klein, dass man nicht umfallen kann, selbst wenn das Haus plötzlich bremsen müsste. Das verleiht einem Menschen wie mir, der nun doch so langsam auf die 60 zugeht, eine gewisse Sicherheit. Doch dieses Haus muss man nicht bremsen. Es geht darin so langsam zu, dass selbst Eintagsfliegen mühelos zwei bis drei Wochen überleben könnten. Was nicht heißt, dass welche da sind. Nicht mal in den hintersten Ecken ist Ungeziefer zu finden. Vermutlich ist sämtliches Getier bereits vor Jahren geflüchtet. Weil es ihm zu langweilig wurde. Nur die Enten draußen am See sind geblieben. Zurück ins Bad. Die Bezeichnung Badezimmer mag anderes vorgaukeln, aber dieser Raum enthält selbstverständlich keine Badewanne, weil eine solche selbst hochkant kaum Platz fände, sondern hier gibt es lediglich eine Dusche, und die reicht auch. Seit Jahren bade ich nur noch stehend. Und dieses Badezimmer besteht im Grunde genommen aus zwei Stehplätzen, einem nassen und einem trockenen, wobei – wenn man nicht aufpasst – auch der trockene Stehplatz vorm Waschbecken im Nu zu einer zweiten Nasszelle wird, sofern man beim Duschen nicht überaus diszipliniert mit dem Wasserstrahl agiert. Das Abtrocknen ist kein Problem, da sich dank der Dusch-Schiebetür selbst für raumgreifende Rückenrubbel-Bewegungen Platz schaffen lässt. Dieser Ausweichplatz ist auch beim Bücken von Nöten, wobei man das Bein, beziehungsweise den Fuß, zum komfortableren Abtrocknen auch auf dem Deckel der Toilettenschüssel stützen kann, was mir soeben ins Bewusstsein ruft, dass ich ja einen Platz im Badezimmer vergessen habe, nämlich den auf der Toilettenschüssel. Genau genommen hat es also drei Plätze, zwei Stehplätze, einer zum Sitzen. Ich rate dennoch dringend davon ab, es zu dritt aufzusuchen. Denn wo zwei oder drei in einem Badezimmer versammelt sind, da geht es meistens drunter und drüber.