Blonder Mond von Lars Winter | Ostfrieslandkrimi | ISBN 9783939689591

Blonder Mond

Ostfrieslandkrimi

von Lars Winter
Buchcover Blonder Mond | Lars Winter | EAN 9783939689591 | ISBN 3-939689-59-9 | ISBN 978-3-939689-59-1

Blonder Mond

Ostfrieslandkrimi

von Lars Winter

Auszug

Die Frau trug ein schwarzes Kleid, die vier Männer einen Sarg und der Himmel einen dicken Pullover aus grauen Wolken. Die Frau war seine Mutter und der Mann im Sarg sein Vater. Lebend hatte er ihn nicht mehr gesehen. Ein Stau auf der Autobahn hatte die Versöhnungsszene am Sterbebett verhindert.
Als Norden letzten Dienstag, spät nachmittags von der Hauptstraße abbog, hatte er im gleichen Augenblick den Leichenwagen vor der ‚Burg’ stehen sehen. Als wäre ihm dreihundert Meter vor dem Ziel das Benzin ausgegangen, ließ er seinen Volvo auf den Bürgersteig rollen und stellte den Motor ab. Keinen Meter hätte er in diesem Moment mehr fahren können. Er war nur noch ein muskelloser Körper und ein betäubter Verstand. Durch die Windschutzscheibe sah er, wie herbstbunte Blätter von den Alleebäumen regneten und wie ein grauer Überführungssarg in einen Leichenwagen geschoben wurde. Die Tränen kamen lautlos, brachen aus ihm heraus, trockneten und bildeten Salzrinnsale auf seiner Haut. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass Tränen, chemisch betrachtet, nichts anderes als farbloses Blut wären. Emotional waren sie es ganz sicher. Dicke Regentropfen klatschten auf seine Windschutzscheibe. In dieser Straße hatte er einmal gewohnt. Zweiundzwanzig Jahre lang. Eine typische, saubere Vorstadt, die sich nicht hinter Beton und Glas verstecken musste wie eine schlechte Nachtclubsängerin hinter rotem Samt und greller Schminke. Er war jetzt zweiundvierzig. Komisch, dass ihm jedes Haus in diesem Moment fremd und schäbig vorkam. Alle Erinnerungen waren wie ausradiert und in seinem Herzen war tiefer Herbst. Der Leichenwagen war längst wieder abgefahren, als er sein Auto endlich startete, um die letzten dreihundert Meter zu fahren. Beatrice Norden öffnete die Tür mit einem Gesichtsausdruck, den er so nur aus Filmen kannte. Betty Davis in Wiegenlied für eine Leiche kurz vor dem Zusammenbruch, dachte er, als er seine Mutter an sich drückte. „Es ging alles so schnell”, schluchzte Bea Norden. Er schloss die Haustür hinter sich und schob sie sanft ins Zimmer. In der Wohnung roch es nach Kaffee und Kerzen. Zwei Tassen standen auf dem Mahagonitisch. Eine war halb voll, hinter der anderen saß sein Bruder. Auch wenn er Daniel seit Jahren nicht gesehen hatte, blieb dieser sitzen, streckte ihm gleichgültig eine leblose Hand entgegen, murmelte einige undeutliche Worte und machte ein Gesicht, als hätte er gerade mit Essig gegurgelt. Wie immer zu spät – schien sein missbilligender Blick zu sagen. Norden schluckte seine eigene Begrüßung hinunter, setzte sich in den Sessel neben seine Mutter und versuchte, sich hinter einem Eiswürfelgesicht zu verstecken. Leider funktionierte das nicht. Das konnte sein Bruder Daniel viel besser als er. Er war das Sonntagskind in dieser Familie - sein großer Bruder Daniel - Goldlöckchen, der Schauspieler, der Spieler, der alle pausenlos mit seinem Margarinen-Charme abzockte. „Wann ist Vater gestorben?”, fragte Norden mit seltsam fremder Stimme. „Um kurz nach drei, aber der Arzt kam erst gegen halb fünf“, antwortete Bea Norden fahrig. „Wo habt ihr ihn hinbringen lassen?” „Bestattungsunternehmen Unruh“, schaltete sich Daniel ein und die Worte tropften wie dickflüssiger Honig aus seinem Mund. „Hat sich der alte Herr noch zu Lebzeiten ausgesucht. Die Beerdigung ist am Freitag.”
Heute war Freitag. Wieder fiel Herbstlaub von den Bäumen. Als hätten sich die kleinen, bunten Blätter von unsichtbaren Schnüren losgerissen, wirbelten sie wie übermütige Miniaturdrachen durch die Luft. Der Friedhof Tholenswehr lag wie ein vergessener Park zwischen Entwässerungskanälen und dem Neubaugebiet. Die alte Friedhofskapelle hatte mehr Stühle als Trauernde, die zur Beerdigung des Architekten Arthur Norden gekommen waren. Im Andachtssaal hatten vierundzwanzig Trauergäste dem Mozartrequiem vom Tonband gelauscht. Das schwarze Klavier neben dem bunten Kapellenfenster wirkte ebenso überflüssig wie die Reihe leerer Stühle links und rechts der Seitengänge. Auch wenn Norden die meisten Trauergäste, die anschließend dem Sarg folgten, kannte, waren da doch einige fremde Gesichter. Von den Geschwistern seines Vaters lebte nur noch eine jüngere Schwester. Eine grauhaarige Frau, weit über siebzig, aber alles andere als faltig und senil. Nicht der Kaffeeklatsch und Frau-im-Spiegel-Typ – mehr die Graue-Panther-Wählerin mit Cosmopolitan-Abonnement. Zusammen mit ihren Söhnen und deren Frauen bildeten sie den Kreis der engsten Verwandten. Auch wenn seine Cousins einige Jahre jünger waren als er, schienen sie sich heute gegenseitig stützen zu müssen. Vielleicht übten sie aber auch nur die passende Gestik und Mimik, wenn sie eines Tages ihre Mutter zu Grabe tragen mussten. Wie wohltuend anders wirkte da die Frau, die unmittelbar hinter den beiden ging. Den Kopf wie ein Mannequin in den Himmel gereckt, sah man in jedem Schritt ihre Entschlossenheit, ihre innere Kraft. Und trotzdem stimmte da etwas nicht. Dafür hatte Norden zu viele Menschen fotografiert - mit und ohne Kamera. Tote und Lebende. Seine Augen betrachteten die unbekannte Schöne nun noch aufmerksamer. Natürlich war ihm diese Frau auch schon vorhin in der Kapelle aufgefallen. Solch ein Gesicht musste einem auffallen, klebte sich einem ins Gedächtnis wie sich ein Kaugummi an die Schuhsohle klebt. Kaum jemand hatte solche Haare, solche Augen, solch ein makelloses Profil. Aber erst jetzt konnte er sie ganz sehen - ihre schlanke Gestalt, ihr enganliegendes, schwarzes Kleid, das mehr von ihrem Körper zu zeigen als zu bedecken schien - und erst jetzt bemerkte er ihr Schluchzen. Das also war es, was nicht passen wollte. Dieses kaum sichtbare auf- und abebbende Beben, das ihren Körper in regelmäßigen Abständen durchlief. 3,8 auf der nach oben offenen Richterskala, schätzte er. Weil Norden annahm, dass seine Mutter zwischen seinem Bruder und dem Pfarrer bestens aufgehoben war, ging er etwas langsamer, schob sich wie ein schüchterner Kellner seitwärts durch die Reihe, nur um Augenblicke später neben der Frau zu gehen. „Hoffentlich fängt es jetzt nicht auch noch an zu regnen“, meinte er und ärgerte er sich im gleichen Augenblick, dass ihm nichts intelligenteres, wenigstens originelleres eingefallen war. Für einen kurzen Moment fanden sich ihre Augen. Kein Ton kam dabei über ihre Lippen. Nicht einmal die tonerschwache Kopie eines Lächelns hatte sie für ihn übrig. Das hier war eine Beerdigung. Also was erwartete er? Trauer? – Leere? All das fühlte er tief in sich selbst – direkt unter seinem Rippenbogen. Trotzdem wollte er diese Frau kennen lernen – musste er diese Frau kennen lernen. Auch wenn er den Grund dafür nicht wusste. Etwas in ihm schien es zu wissen. „Mein Name ist Norden“, flüsterte er, als würde er mit sich selbst sprechen. „Der Mann in dem Sarg ist mein Vater.“ Diesmal antwortete sie – wenn auch anders, als er das erwartet hatte. „Lassen Sie dem Himmel seine Tränen – und mir meinen Abschied.“ Ihre Stimme klang weich und melancholisch zugleich. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, hatte sie ihn, kurz bevor der Trauerzug hielt, mit ein paar schnellen Schritten stehen lassen. In einer Reihe bereits existierender Gräber waren nur noch wenige Lücken zu schließen gewesen. Umrahmt von dichten Eibenhecken sah dieser Teil des Friedhofs mehr wie ein vergessener Park aus, eine lebendige Wildnis aus dickköpfigem Grün. Nur die Grabsteine standen ordentlich aufgereiht, wie altmodische Parkuhren in der Innenstadt. Vor dem Grab neben dem Sarg wartete der Pfarrer. ‚Ein junger Mann, wenigstens für einen Geistlichen’, dachte Norden. Mit seinem braun gebrannten Gesicht und diesem sportlichen Gang hätte er genauso gut Animateur in einem Robinson-Club sein können. Nur die Stimme klang nach Pfarrer. „Liebe Trauergäste. Als Arthur Norden mich vor einigen Monaten bat, diese Trauerrede nach seinem Tod zu halten, war ich überrascht, weil er sich nie in einen meiner Gottesdienste verirrt hatte und auch sonst keinen Kontakt zur Kirchengemeinde suchte. – Ich konnte mich nicht einmal an eine frühere Begegnung mit ihm erinnern. Trotzdem wollte er im christlichen Glauben beerdigt werden. Nicht etwa, wie er sagte, weil er kurz vor seinem Tode nun doch noch gläubig geworden wäre. Auch hätte er keine Angst vor der Hölle oder dem Fegefeuer. Die Angst hätte er vor langer Zeit verloren – und die Hölle gebe es wie das Paradies nur auf Erden, erklärte er mir damals. Nein, Arthur Norden wollte christlich beerdigt werden, weil er wohl Rücksicht auf die religiösen Überzeugungen anderer Menschen nehmen wollte, die ihm wichtig waren.“ Eine kurze dramaturgische Pause des Pfarrers wirkte wie der Kunstgriff eines Theater-Regisseurs. „Und weil diese Beerdigung Menschen zusammenführen würde, die sich sonst vielleicht niemals begegnet wären.“ Ein breites Schmunzeln begleitete die nächsten Worte. „Außerdem wäre es eine gute Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, dass er nun endlich wirklich gestorben sei.“ In Gedanken wärmte sich Norden noch einmal am rauen Humor seines Vaters. Anderen ging es wohl genauso. Aus den Augenwinkeln sah er das Lächeln seiner Mutter und im Kontrast dazu die Marionetten-Mimik seines Bruders. Das Gesicht der schönen Unbekannten sah er nur im Profil. ‚Makellos’, dachte er wieder – schön, dunkel und geheimnisvoll, wie nur eine Frau auf ihn wirken konnte.