Wir sollten leben | Am 1. Mai 1945 von Kiel in Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit | ISBN 9783941664715

Wir sollten leben

Am 1. Mai 1945 von Kiel in Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit

herausgegeben von Bernd Philipsen und Fred Zimmak
Mitwirkende
Herausgegeben vonBernd Philipsen
Herausgegeben vonFred Zimmak
Buchcover Wir sollten leben  | EAN 9783941664715 | ISBN 3-941664-71-9 | ISBN 978-3-941664-71-5
Holocaust-Überlebende und deren Angehörige und am 2. Wetkrieg Interessierte; Historiker

Das Unvorstellbare bekommt Namen und Gesichter
Eine persönlich-betroffene Rezension zum Buch:
Schon lange hat mich die Konfrontation mit jüdischen Lebensschicksalen nicht mehr so sehr gepackt wie bei der Lektüre dieses Buchs, die mir mehrere lange Leseabende eingebracht hat, an denen ich das Buch nicht vor Mitternacht aus der Hand legen konnte.
Ähnlich tief berührt haben mich bislang nur etliche Besuche in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem (hebr. „ein Denkmal und ein Name“) und ganz besonders die persönlichen Begegnungen mit Shoah-Überlebenden, die ich während einer mehrjährigen beruflichen Tätigkeit im deutsch-israelischen Jugendaustausch in den 70/80er Jahren erleben durfte und die tiefe Spuren in mir hinterlassen haben.
Was macht nun für mich die der persönlichen Begegnung vergleichbare Erlebensdichte bei der Lektüre dieses Buchs aus?
Da ist zum einen eine gewisse „Überschaubarkeit“ der dargestellten ausführlichen Lebensgeschichten von 14 jüdischen Menschen. 14 Namen und Gesichter – das ist nachvollziehbar, während die unvorstellbare Zahl von 6 Millionen ermordeter Juden in Dimensionen jenseits meiner Vorstellungskraft reicht. Zum anderen sind diese Lebensgeschichten und die in der Liste aller 153 in Kiel Befreiten kurz genannten Lebensdaten zu erheblichen Teilen an Orten beheimatet sind, die mir aus meiner eigenen Lebensgeschichte vertraut sind, weil ich selbst dort gelebt bzw. meine berufliche Arbeit mich dorthin geführt hat: Münster, Coesfeld, Horstmar, Arnsberg, Duisburg, Gelsenkirchen, Bochum, Paderborn, Trier... ...
Am konkretesten und tiefsten berührt - und daher hier exemplarisch genannt - haben mich die Lebensgeschichten von Wilhelmine Cohen und Benno Süßkind (S. 121 ff). Wilhelmine Cohen (Jahrgang 1905) ist geboren und aufgewachsen in Coesfeld, der Heimat meines gleichaltrigen Vaters (Jahrgang 1906) – wer weiß, ob sie sich nicht als Kinder begegnet sind? Wilhelmine Cohen berichtet zudem, dass sie in den ersten Kriegsjahren bei alliierten Luftangriffen im Luftschutzkeller des Gymnasiums Nepomucenum in Coesfeld Zuflucht fanden – in der Schule, die mein Vater früher als Schüler besucht hat und in der er von 1933-1935 als junger Lehrer tätig war.
Denkwürdig für mich auch: Wilhelmine Cohen und ihr zweiter Ehemann Benno Süßkind beschlossen 1947, aus Schweden nach Deutschland zurückzukehren. Sie zogen nach Trier und bauten sich dort nicht nur ihre eigene neue Existenz, sondern auch die dortige Jüdische Gemeinde maßgeblich wieder auf. Denkwürdig für mich deshalb, weil ich mehrere Jahre in Trier gelebt habe und dort meine Tätigkeit im deutsch-israelischen Jugendaustausch begann. Mit einer meiner israelischen Austauschgruppen habe ich das Trierer Stadtarchiv besucht, um Dokumente aus der Geschichte der Jüdischen Gemeinde anzuschauen (u. a. sehr sauber und ordentlich geführte Deportationslisten mit Vermerken wie „nach Theresienstadt verzogen“). Indirekt bin ich also dort auch schon dem Ehepaar Süßkind und ihrem Wirken in der Gemeinde begegnet …
Eigentlich unvorstellbare, grauenvolle Lebensschicksale haben so nicht nur Namen und Gesichter bekommen, sondern auch einen direkten Bezug zu meiner eigenen Lebenswelt, auch wenn ich ein Nachkriegskind (Jahrgang 1949) bin. Diese Lebensgeschichten haben sich nicht irgendwo an fernen Orten abgespielt, sondern in meinem eigenen Umfeld. Es sind Schicksale aus der Generation meiner Eltern und von vielen sogar noch deutlich jüngeren Menschen – also auch zeitlich nah an meinem eigenen Leben. Ich kann diese Menschen auf Fotos anschauen, die denen so ähnlich sind, die ich aus den Fotoalben meiner Eltern kenne – so „normal“ und vertraut. Und hinter jedem der 153 in letzter Minute in Kiel Geretteten stehen die Schicksale unzähliger Ermordeter: Ehepartner, Kinder, Geschwister, Eltern, Großeltern, Verwandte, Freunde, Nachbarn, Kollegen – Menschen, mit denen die Überlebenden eng verbunden waren. Menschen wie ich und du und wie alle, mit denen wir verbunden sind …
Es ist eine hoch zu schätzende Leistung der beiden Herausgeber, ihrer Mitautoren und des Novalis-Verlags, dass sie durch die reiche und anschauliche Bebilderung des Buchs mit Fotos und Dokumenten die Lebensgeschichten dieser Menschen und auch die wunderbare Rettungsaktion und deren Initiatoren und Helfer für uns Nachgeborene so intensiv erlebbar gemacht haben. Es ist ein wichtiges Buch in unserer bewegten und unruhigen Zeit, in der sich der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion erdreistet, die 12 Jahre der Hitler-und-Nazi-Diktatur als „nur ein Vogelschiss in über 1000 (!) Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ zu bezeichnen.
Was für ein ungeheuerlicher Schlag ins Gesicht all' derer, die in diesen 12 Jahren so unsägliches Leid erfahren haben! Es ist eine unerträgliche Vorstellung, die Überlebenden müssten sich mit solchen Parolen konfrontiert sehen.
Etwas ganz anderes ist beinahe ebenso unvorstellbar und daher umso beeindruckender und ermutigender: das Buch gibt auch Zeugnis davon, dass diese Menschen, die durch eine Hölle gegangen sind, ihren Lebenswillen und ihren Lebensmut danach wiedergewonnen haben – ein weiterer gewichtiger Grund, warum wir sie, ihre Namen und Gesichter nie vergessen dürfen.
Dazu sehr eindrücklich und zu Herzen gehend beizutragen, ist das Verdienst dieses Buches, für dessen Impulse ich dankbar bin – auch dafür, dass es mich anregt, die Geschichte meiner eigenen Familie in dieser Zeit noch einmal neu zu beleuchten. (M. Trendelkamp)

Ich mag den Collage-Charakter des Buches, die Gedichte, die Art und Weise des Umgangs mit den Fotos - mal zum Text, mal als eigene Foto-Ausstellung, die augenfreundliche Typologie. Auch die Gestaltung des Buches ist wunderbar gelungen und dem Inhalt sehr angemessen. (Kommentar einer Leserin)

Wir sollten leben

Am 1. Mai 1945 von Kiel in Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit

herausgegeben von Bernd Philipsen und Fred Zimmak
Mitwirkende
Herausgegeben vonBernd Philipsen
Herausgegeben vonFred Zimmak
Am Morgen des 1. Mai 1945 rollten weiß gestrichene und mit dem Rot­Kreuz­-Emblem versehene Busse und Krankenwagen durch das Tor des Arbeitserziehungslagers Kiel­-Hassee. Sie gehörten zum Kontingent der von dem schwedischen Grafen Folke Bernadotte initiierten Rettungsmission, um in der Endphase des Zweiten Weltkrieges möglichst viele KZ­ Häftlinge aus den Händen der SS zu befreien und nach Schweden in Sicherheit zu bringen. Die Rettungsfahrzeuge nahmen in dem Kieler Lager 153 jüdische Häftlinge auf, Menschen, von denen die meisten eine mehrjährige Odyssee durch Ghettos und Lager durchlitten hatten.
Diesem Transport und – vor allem – den damals ausgezehrten und verzweifelten Menschen widmet sich dieses Buch. Es spürt an Hand von Dokumenten und Zeitzeugenberichten den Lebensläufen der nach Schweden geretteten Holocaust­ Überlebenden nach und schildert ihr Leben nach dem Überleben. Es sind individuelle Überlebensgeschichten von Menschen, die die Hoffnung auf ihre Befreiung vom Nazi-­Joch bereits aufgegeben hatten und ungläubig in die Rettungs­- fahrzeuge eingestiegen waren. „Also sollte ich leben“, schrieb Johanna Rosenthal aus Potsdam nach dem glücklichen Ende ihres Martyriums in einem schwedischen Flüchtlingsheim nieder. Wir sollten leben – das war in Anlehnung an Johanna Rosenthals Ausspruch die Botschaft der in Kiel befreiten Frauen, Männer und Kinder, die in Schweden ihren Lebens­mut und ihr Selbstbewusstsein zurückgewonnen hatten.