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Auszug
1. Spannung. Eine DefinitionSpannung im literarischen Sinn ist ein dichterisches Mittel, um die Neugier und das Interesse der Lesenden in gesteigertem Maß zu wecken und wach zu halten. Dies gilt für jede Art der belletristischen Literatur, nicht nur für Krimis, Thriller und Abenteuerromane, die als Inbegriff der Spannungsliteratur gelten. Auch alle anderen Genres brauchen ein Mindestmaß an Spannung, um die Lesenden nachhaltig aus dem Alltag zu entführen. Sie erwarten eine Handlung, die sie idealerweise atemlos die Seiten verschlingen lässt in dem Bestreben, möglichst schnell zu erfahren, wie die Geschichte sich entwickelt und endet. Sie möchten mit den Hauptfiguren mitempfinden, mit ihnen leiden, hoffen, lachen, sich mit ihnen freuen. Ohne eine wenigstens zart kribbelnde Spannung sind selbst humorvolle Geschichten langweilig. Und wenn in einem Liebesroman keine Spannung – positive (Anziehung) wie negative (Konflikte) – zwischen den beiden sich (künftig) Liebenden herrscht, wirkt die Geschichte bis zu dem Moment, wo sie sich „kriegen“ (und darüber hinaus), wie eine Schlaftablette. Schon Voltaire meinte: „Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.“ Ein Teil des Publikumsinteresses wird bereits durch das Thema selbst geweckt und dadurch, wie originell und mitreißend es sich schon in den ersten Sätzen/Absätzen des Textes präsentiert. Jedoch, das sei hier vorab gesagt, liegt es „im Auge der Betrachtenden“, was als spannend oder langweilig empfunden wird. In „Moby Dick“ gibt es seitenlange Ausführungen über Wale, ihre Arten, ihre Gewohnheiten. (Heute würde man solche Passagen als unschönen „Infodump“ streichen.) Manche Lesenden finden solche Informationen spannend, weil das Thema sie interessiert, andere sind davon zu Tode gelangweilt. In Liebesromanen ist für viele Leserinnen (männliche Leser eher weniger) interessant, welche Kleidung die Heldin trägt und von welcher Marke ihre Schuhe sind oder wie ihre Handtasche aussieht. Andere überspringen solche Passagen, weil sie sie belanglos und uninteressant finden. Wieder andere empfinden jede Handlung als langweilig, die nicht möglichst viel Action enthält und können selbst dem spannendst präsentierten psychologischen Konflikt nichts abgewinnen. Manche fühlen Spannung erst, wenn sie mörderisch zuschlägt und empfinden Langeweile, wenn sie nur zart kribbelt, weil sie diese zärtliche („cosy“) Variante der Spannung gar nicht wahrnehmen. Unabhängig von solchen Vorlieben gibt es etliche Methoden zu garantieren, dass das gesamte „Gewebe“ der Geschichte – egal ob lang (Roman) oder kurz (Kurzgeschichte) – ein Grundmaß an Spannung enthält, das die Lesenden sie bis zum Ende verschlingen und sie hinterher zufrieden mit dem Gelesenen zurücklassen. Diese Methoden lernen Sie hier kennen.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen den folgenden Spannungsarten. Konfliktspannung. Alle Konflikte bestehen aus der Spannung, die durch die Differenzen erzeugt werden, welche die Hauptpersonen – Heldinnen/Helden mit ihren Feindinnen/Feinden oder mit sich selbst – beizulegen, zu lösen oder anderweitig auszutragen haben. Mehr dazu erfahren Sie in Kapitel7. Vorab schon jetzt: Ohne Konflikte (im weitesten Sinn) gibt es keine Spannung. Niemals. Handlungsspannung. Die Handlung ist als solche spannend oder die Spannung erwächst aus der Handlung, zum Beispiel das Entschärfen einer Bombe, die jeden Moment explodieren kann, eine Actionszene oder eine Verfolgungsjagd. Abenteuerromane und Actionthriller leben überwiegend von Handlungsspannung. Situationsspannung. Stehen sich die Hauptfigur und ihr Todfeind gegenüber, beide fest entschlossen, dass nur einer von ihnen die Begegnung überleben soll, so ist allein diese Konstellation spannungsgeladen, selbst wenn die beiden einander erst einmal nur anstarren. Das gilt auch für jede andere Situation, in der die positive und die negative Hauptperson aufeinandertreffen, auch wenn sie keine Todfeinde sind. Entscheidungsspannung. Jemand muss eine Entscheidung treffen. Je weitreichender, konsequenzreicher oder schwerwiegender diese Entscheidung ist, desto größer ist der Konflikt oder sogar die Last der Entscheidungsfindung. Die Lesenden fiebern mit, wofür die Person sich entscheiden wird und was die Konsequenzen sein werden. Besonders spannend wird es, wenn jede Lösungsmöglichkeit einen erheblichen Nachteil beinhaltet und die Entscheidung die sprichwörtliche Wahl zwischen Teufel und Beelzebub ist, vielleicht sogar Opfer fordert. Nur: Welche Wahl ist das kleinere Übel? Erwartungsspannung. Hierbei gibt es zwei Varianten. Entweder die Lesenden wollen wissen, wie die Handlung, die Geschichte, weitergeht, haben vielleicht sogar eine Vermutung und sind nun gespannt, ob sie sich erfüllt. Oder die Hauptfigur erwartet etwas Bestimmtes und will wissen, ob ihre Erwartung oder Befürchtung (Erwartung von etwas Negativem) zutrifft. Überraschungsspannung. Sie ist die andere „Seite“ der Erwartungsspannung. Indem Sie die Lesenden mit unerwarteten Handlungsverläufen und ebenso unerwarteten Wendepunkten überraschen, erzeugen Sie in ihnen Spannung. Der Grund: Wenn Sie sich an althergebrachte Erzählstrukturen, Konflikte, Figuren und bekannte Handlungen halten und diese in Ihre Romane und Storys einarbeiten, wissen die Lesenden bereits, was kommen wird (zumindest teilweise). Dieses Wissen verhindert aber das Aufkommen von Spannung. Haben Sie Ihr Publikum stattdessen mit Ungewöhnlichem, vielleicht sogar bis dahin Unbekanntem überrascht, können die Lesenden nicht mehr vorausahnen, wie sich die Handlung entwickelt und sind gespannt, wie sie wohl weitergeht. (In Kapitel6, in dem die Originalität als Spannungsmittel vorgestellt wird, erfahren Sie dazu mehr.) Psychologische Spannung. Diese greift nicht nur in ausgesprochenen Psychothrillern oder Kammerspielen (siehe Glossar), in denen sich zwei oder mehrere Leute ein Psychoduell liefern (hervorragendes Beispiel: das Theaterstück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ von Edward Albee). Psychologische Spannung entsteht, wenn zwei grundverschiedene Überzeugungen, ethische Werte, Verhaltensweisen oder Absichten (unvereinbar) aufeinandertreffen. Banales Beispiel: Das Ermittlerteam hat den Entführer geschnappt, der aber ums Verrecken nicht preisgeben will, wo er das Entführungsopfer gefangen hält, denn ohne das Opfer, das mit dem Finger auf ihn als Täter zeigt, kann man ihm die Tat nicht beweisen. Nun muss das Team ihn „weichkochen“, um das Opfer zu retten, bevor es verhungert, verdurstet, erstickt oder anderweitig ums Leben kommt. Dadurch entwickelt sich ein (actionloses) höchst spannendes Katz-und-Maus-Spiel, um dem Entführer mit allen möglichen psychologischen Tricks diese Information zu entlocken, bei dem es bei jedem Manöver um die Frage geht: Welches ist der eine Trick, auf den er reinfällt? Und während die Ermittelnden darüber rätseln, tun das auch die Lesenden. Spannung pur! Anderes Beispiel: Man hat dem jungen Mönch sein Leben lang beigebracht, dass alle Nichtchristen „böse“ und verdammt sind, die man entweder bekehren oder töten muss. Dann trifft er auf einen Anhänger Odins, der sich nicht bekehren lassen will, aber der verhält sich „christlicher“ (indem er den Mönch rettet und beschützt), als die meisten Christen. Töten kann und will er den Odin-Anhänger nicht (mehr), aber wie kann er ihn bekehren? Oder ist am Ende er selbst der „Bekehrte“ und sei es nur in der Form, dass er das Missionieren aufgibt? Allerdings empfinden nicht alle Lesenden psychologische Spannung als interessant, denn es gibt durchaus Menschen, für die nur geballte Action Spannung bedeutet und alles andere langweilig ist. Erklärungsspannung/Aufklärungsspannung. Hierbei steht die Erklärung einer Handlung oder eines Verhaltens oder die Auflösung eines Rätsels (im weitesten Sinn) im Mittelpunkt. Diese Erklärung/Aufklärung wirkt jedoch – zusätzlich zur Art der Beschreibung – nur dann spannend, wenn sie erstens etwas offenbart, womit die Lesenden nicht gerechnet haben oder was sie nicht schon durch die vorangegangene Handlung wissen. War sich der Verliebte sicher, seine Freundin habe ihn wegen eines anderen Mannes verlassen, wäre eine Erklärung, die das bestätigt, gänzlich unspannend. Anders verhält es sich, wenn die Freundin einen ganz anderen Grund hatte, vielleicht erpresst wurde. Zweitens: Zur Erzeugung von Spannung darf die Erklärung nicht „linear“ gegeben, nicht einfach der Reihe nach „aufzählend“ berichtet werden. BEISPIEL:
Diese verschiedenen Arten der Spannung kann man alle oder nur einige in einem Roman oder einer Story verarbeiten.