Naturwissenschaft, Medizin und Gesellschaft von Georg Soldner | Reflexionen in Auschwitz-Birkenau | ISBN 9783906947686

Naturwissenschaft, Medizin und Gesellschaft

Reflexionen in Auschwitz-Birkenau

von Georg Soldner
Buchcover Naturwissenschaft, Medizin und Gesellschaft | Georg Soldner | EAN 9783906947686 | ISBN 3-906947-68-8 | ISBN 978-3-906947-68-6

Naturwissenschaft, Medizin und Gesellschaft

Reflexionen in Auschwitz-Birkenau

von Georg Soldner
Unter dem Titel «Medizin ohne Menschlichkeit. Lehren und Lernen von Ausch- witz» veranstaltete die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD) in der Zeit vom 10. bis zum 13. März 2022 ein Seminar an der Ge- denkstätte Auschwitz-Birkenau (Polen). Die von der Universität Witten/ Her- decke (Integriertes Begleitstudium Anthroposophische Medizin) seit 2008 in medizinethischen Seminaren mit Dr. phil. Krzysztof Anton ́czyk aufgebaute Zusammenarbeit1 ermöglichte auch 2022, im Schatten des nahen Krieges in der Ukraine, über die Verbrechen an diesem Ort, über die Täter und Opfer nachzudenken. Mit im Zentrum unserer Fragen stand dabei einmal mehr die Beteiligung und innere Haltung der SS-Ärzte am «biopolitisch» motivierten Vorgang der Menschenselektion, der Menschenversuche und -tötungen – und die Fragen nach den geistigen Grundlagen, auch innerhalb des medizi- nischen Systems selbst. In seinem Artikel «Euthanasie und Menschenversuche» vertrat Viktor von Weizsäcker bereits 1947 die Auffassung, «dass die moralische Anästhesie gegenüber den Leiden der zu Euthanasie und Experimenten Ausgewählten begünstigt war durch die Denkweise einer Medizin, welche den Menschen betrachtet wie ein chemisches Molekül oder einen Frosch oder ein Versuchs- kaninchen.»2 Es gehe darum, so von Weizsäcker damals, den «Geist» der Medizin und insbesondere der «naturwissenschaftlich-biologischen Medizin» und Pathologie zu prüfen und zu hinterfragen, welche Art von Medizin dem Nationalsozialismus so dienstbar entgegengekommen sei: «Was für eine Medizin ist es denn, die so terrorisierbar und verführbar war? Es muss einen Grund in der Medizin selbst geben.»3 An anderer Stelle (1946) schrieb von Weizsäcker: «Wie, wenn das Weltbild der Naturwissenschaft, seine Vorherr- schaft in der Medizin eine Ursache einer entmenschten Tätigkeit werden könnte, ja geworden ist? Ich behaupte dies.»4 Georg Soldner, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Leiter der Akade- mie der GAÄD und stellvertretender Leiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum, sprach zu den Teilnehmern des Seminars am Abend des 12. März 2022 zu dem Thema: «Die Naturwissenschaft und die Gefährdung der Medizin: damals, heute, morgen». Die ausgearbeitete Schriftfassung seines Beitrags bildet den Inhalt des vorliegenden Buches, das von großer Bedeu- tung für ein Verständnis des Gewesenen und für die Vorbereitung einer anderen Zukunft ist, inmitten aktueller Herausforderungen.5
Ita Wegman Institut Peter Selg Arlesheim, Mai 2022
1 Vgl. hierzu Selg, P.: Nach Auschwitz. Auseinandersetzungen um die Zukunft der Medizin. Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim, 2020. Vgl. a. https:/// www. thelancet. com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(19)32613-3/full- text. Die Seminar-Dokumentationen der Studierenden sind elektronisch verfüg- bar: https://ibam. uni-wh. de/studium/links-downloads.
2 Weizsäcker, V. v.: Gesammelte Schriften 7. Allgemeine Medizin /Grundfragen medizinischer Anthropologie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1987, S. 134.
3 Ebd., S. 104.
4 Weizsäcker, V. v.: Bemerkungen zu dem Gutachten von Herrn Jaspers über den Antrag Mitscherlich (30.7.1946): In: Henkelmann, Th.: Viktor von Weizsä- cker (1886 – 1957). Materialien zu Leben und Werk. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 1986, S. 167.
5 Vgl. Anm. 1.