Der Lesebegleiter von Tobias Blumenberg | Reise durch die Welt der Bücher für Vierzehn- und Hundervierjährige | ISBN 9783000537189

Der Lesebegleiter

Reise durch die Welt der Bücher für Vierzehn- und Hundervierjährige

von Tobias Blumenberg
Buchcover Der Lesebegleiter | Tobias Blumenberg | EAN 9783000537189 | ISBN 3-00-053718-X | ISBN 978-3-00-053718-9
Leseprobe
All-Age-Book – Untertitel: "Reise durch die Welt der Bücher für Vierzehn- und Hundervierjährige"

Der Lesebegleiter

Reise durch die Welt der Bücher für Vierzehn- und Hundervierjährige

von Tobias Blumenberg

Auszug

Früher waren die Bücher gut, wenn sie viele und schöne Abbildungen hatten. Bücher ohne Bilder waren schlecht. Dann plötzlich ist alles anders. Du kannst lesen. Du hast ein Buch in der Hand, es ist nicht irgendeines, sondern das eine, das Dein Leben verändern wird. Noch bevor Du es zur Hand nimmst, hat es Eindruck auf Dich gemacht. Du schlägst es auf, blätterst, fängst an zu lesen … Das Buch ist unverzichtbar. Es in die Hand zu nehmen ist ein Stück Freiheit, es aufzuschlagen, wo immer man will, es zu benutzen, auch zu verändern, es zu seinem Eigentum zu machen.
Der Lesebegleiter entführt Dich in die Welt vieler faszinierender Bücher und beeindruckender Lese-Erlebnisse – ein Horizont erweiternder Spaziergang durch die Literatur.
- Leseprobe -
Vorspann
Spuren im Sand. Woher weht der Wind? Immer von Westen. Man weiß es, wenn man eine Zeitlang dagegen angegangen ist. Die Bäume machen einen Buckel und verneigen sich allesamt nach Lee, Fenster zur Wetterseite sind blind oder leck, meist beides, vom Sturm und dem Salz in der Luft. Seit drei Stunden bin ich unterwegs, mit Rückenwind zuerst; da dachte ich noch: toll, wie einfach, wie beschwingt es sich geht – aber jetzt auf dem Rückweg bläst es mir steif ins Gesicht. Immer von Westen, wie in Herr der Ringe1, da kommt auch alles Gute aus dem Westen, Frodo und die Elben, und im Osten liegt Mordor mit dem Schicksalsberg. So einfach war Tolkiens Geographie. Ich komme also gerade aus dem Westen, vom Städtchen Norderney auf der gleichnamigen ostfriesischen Insel. Und bin den Strand entlang bis ganz ans Ostende gegangen. Vierzehn Kilometer, nach dem Eintrag im Brockhaus, ist die Insel lang, hat sechstausendeinhundert Einwohner und ist seit 1797 Seebad. Im Kulturfahrplan von Werner Stein, in dem man nachschlagen kann, was alles zur selben Zeit passiert ist, steht, dass in demselben Jahr Bonaparte, der spätere Kaiser Napoleon, die Lombardei für Frankreich annektierte und Heinrich Heine geboren wurde. Der Franzose ließ später die Insel besetzen, um England zu bedrohen. Und Heine? Der hat dann auf Norderney ein paar sehr schöne Gedichte gemacht, bevor er nach Paris ging, um der politischen Verfolgung in Deutschland nach des Kaisers Sturz zu entgehen. Vermutlich hat er sich vom Glitzern der Sonne auf den Wellen inspirieren lassen; das sieht wirklich sehr schön aus, sogar wenn man die Augen geschlossen hat und die Reflexe durch die Lider dringen. Napoleon war nicht auf der Insel, obwohl man doch jetzt dort kuren konnte, aber er vertrug das Inselklima auch anderswo nicht recht. Theodor Fontane kam gerne hierher und schrieb irgendetwas, sicher eine traurige Ehegeschichte; ja tatsächlich, in Effi Briest sollen einige Spuren seines Aufenthalts hier zu entdecken sein, weiß das nette Büchlein Fontane auf Norderney, das in der »Inselbuchhandlung« ausliegt. Die Baronin Blixen aus Dänemark startete ihr literarische Karriere gar mit einer Sintflut von Norderney, in der sie einen falschen Bischof auftreten lässt. Ganz schön gruselig! Sie nannte das – sie schrieb englisch – eine ›gothic tale‹. Was das wohl sein mag? Und sogar der revolutionäre Wladimir Majakowski dichtete brav:
Ein Provinznest wie andre – plus Sandwüstenei, ein deutsches Seebad: Norderney. Vom Himmel fällt bald ein Strahl, bald eine Möwe, Das Meer sprüht Feuer und schläft wie ein Löwe.
Im Brockhaus steht noch, dass die Insel früher, vor sechshundert Jahren, viel größer war. Eines Tages ist sie auseinandergebrochen. An der Stelle war ich gerade. Da hört die letzte Düne auf und der Strand streckt sich endlos. Eine ganze Insel auseinandergebrochen! Das kann sich auch keiner ausdenken. Offenbar ist gerade Ebbe und man meint trockenen Fußes hinüberzukommen zum anderen Bruchstück der ursprünglichen Insel, nach Baltrum. Dort stehen ein paar Häuser und alles sieht friedlich und verschlafen aus. Keine Menschenseele ist hier. Keine Spuren im Sand, es sei denn die eigenen. Man kommt nicht hinüber auf die andere Seite, denn immer noch ist etwas Wasser dazwischen und bald läuft die Flut auf; und so gab es nichts als die Umkehr. In weiter Ferne branden Wellen an, eine hinter der anderen, in unerschöpflicher Gleichförmigkeit. Immer wieder mustere ich erwartungsvoll die endlose Meeresoberfläche. Irgendetwas Auffälliges in der Eintönigkeit? Ein Walbuckel? Eine Dampffontäne? (»Er bläst! Er bläst!« tönt es bei solcher Gelegenheit aus dem Krähennest, dem Auslug an der Mastspitze.) Nein, nichts. Die Sonne scheint, es ist kalt, der Wind weht eisig, wir haben Februar, mitten in einem langen und kalten Winter. Wenn man aus dem Süden, und da bin ich zu Hause, auf dem Weg zur Nordsee ist, wird die Luft würziger, klarer und angenehmer zu atmen, je näher man dem Meer kommt. Gerade jetzt im Winter strömt statt Heizungsluft wieder guter Sauerstoff in die Lungen und von dort hirnwärts. Man kriegt den Kopf frei. Das ist der Reiz an Ferien auf Norderney. Und noch dreizehn Kilometer bis ins Warme. Viel Zeit also, über alles Mögliche nachzudenken. Die eigenen Fußspuren. Woher kenne ich das? Der Walbuckel. Wie kommt mir der in den Sinn? Na klar, Moby Dick und Robinson Crusoe. Da habe ich diese Idee. Wie wäre es, wenn ich Dir erzählte, wie es mit der Liebe zu Büchern bei mir angefangen hat? Was ich zuerst gelesen habe, wie es auf mich gewirkt hat. Was schöne Bücher ausmacht, welche man sich schenken lassen oder selber kaufen sollte, wie man Bücher sammelt und was man davon hat? Hmm … Aber ich habe mich Dir noch gar nicht vorgestellt: Ich heiße Tobias, bin im Augenblick neunundvierzig Jahre alt, von Beruf Zahnarzt und meine Nase läuft. Das gehört zu Nordseeferien im Winter. Wenn Du das liest, bin ich natürlich schon viel älter – vielleicht auch tot –, aber das tut nichts zur Sache. Hätte George Berkeley, der Bischof von Cloyne, dazu gesagt. Das war ein merkwürdiger Mann. Sein Hauptwerk erschien 1710. Im selben Jahr, sagt der Kulturfahrplan, wurde August der Starke polnischer König und Bachs Sohn Friedemann kam zur Welt. Über August und die Madame Pompadour gibt der Senator Buddenbrook im Herrenzimmer einen unzüchtigen Vers zum besten, jedenfalls hielt Thomas Mann die Stelle für äußerst ›stark‹; und Friedemann, das war doch der dem Trunk ergebene genialische Bachsohn, den Gustaf Gründgens für die Ufa gespielt hat. Aber wie komme ich eigentlich auf Berkeley? Der hatte erklärt, dass Materie nichts anderes sei als Wahrnehmung, außer ihr gar nicht existiere, und belehrte einen Mann, der sich in seiner Gegenwart heftig am Kopf stieß: »It matters not!«. Seine Lehre war schon am folgenden Tag widerlegt: Als der Mann, der sich den Kopf gestoßen hatte, aufwachte, hatte er eine Riesenbeule. Das war also doch ein realer Zusammenstoß mit Materie gewesen! Aber Berkeleys Lehre gilt natürlich für das Lesen: Jedes Buch wird erst in unserem Kopf wieder zum Buch. Vorher waren es nur Blätter. Durch das Lesen tritt es in Erscheinung. Dann erst ist es da, in unserem Kopf, auch wenn das Buch selbst schon längst wieder weggelegt ist. Kluger Knabe, der Bischof. Einen Beruf zu haben ist schön und macht Spaß. Sogar Zahnarzt sein. Aber der Kopf bleibt bei all der Beschäftigung noch frei für andere Dinge. Da drinnen kann man ja machen, was man will. Zum Beispiel über Bücher und das Lesen nachdenken, und das mache ich schon lange und es macht mir Spaß. Der wird, ob Du’s glaubst oder nicht, immer noch größer, je mehr und je länger ich lese. Und warum das mit dem Lesen so ist, und was ich all die Jahre gelesen und dabei nachgedacht habe, zum Beispiel als ich so alt war wie Du, davon will ich jetzt erzählen.