Die Welt zu Füßen von Lesley Lokko | Roman | ISBN 9783453353138

Die Welt zu Füßen

Roman

von Lesley Lokko, aus dem Englischen übersetzt von Angelika Felenda
Buchcover Die Welt zu Füßen | Lesley Lokko | EAN 9783453353138 | ISBN 3-453-35313-7 | ISBN 978-3-453-35313-8
Leseprobe

Die Welt zu Füßen

Roman

von Lesley Lokko, aus dem Englischen übersetzt von Angelika Felenda

Auszug

Dezember 1990 Paris
Um vier Uhr nachmittags war es schon dunkel, und ein feiner grauer Nebel senkte sich auf die Champs-Elysees. Weihnachtslichter schimmerten im Regen und warfen rote und goldene Lichtkaskaden auf die feuchten Straßen. Eine große, schlanke junge Frau eilte über das Trottoir und zog den schwarzen Wollmantel enger um sich. Nervös sah sie auf die Uhr: Er würde auf halber Strecke in der Stadt auf sie warten, und sie hatte sich wie üblich verspätet. Ein schwarzer BMW hielt vor ihr, aber sie war zu beschäftigt, nach einem Taxi Ausschau zu halten, um auf den Wagen zu achten. Ein Mann stieg aus, blieb direkt vor ihr stehen und versperrte den Weg. Ungeduldig und noch immer nach einem Taxi suchend, versuchte sie, an ihm vorbeizugehen. Er streckte die Hand aus und rief ihren Namen. Argwöhnisch sah sie ihn an. Sie war es gewohnt, von Fremden erkannt zu werden, aber diese Stimme klang irgendwie vertraut. Sie versuchte ihn im trüben Licht der Straßenlaterne genauer zu erkennen. 'Was machst du denn hier?', fragte sie überrascht und versuchte, sich zu erinnern, wann sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. In Los Angeles? In London? Bevor er antworten konnte, hörte sie einen weiteren Wagen anhalten, sie hörte eine schwere Wagentür zufallen und Schritte hinter sich. Sie drehte sich um und fragte sich, was all die Hektik sollte. Sie bemerkte nicht, dass der Mann den beiden hinter ihr kurz zunickte. Einer von ihnen streckte plötzlich den Arm aus, packte sie am Ellbogen und zog sie an sich. Von Panik ergriffen, versuchte sie, sich loszureißen. Noch bevor sie schreien konnte, legte sich eine behandschuhte Hand auf ihren Mund, der andere Mann öffnete die Wagentür, sie wurde brutal auf den Rücksitz gestoßen und stieß sich dabei den Kopf am Türrahmen. Niemand bekam etwas mit: In Sekundenschnelle war alles vorbei. Im Innern des Wagens packte sie jemand an den Haaren und drückte sie mit dem Gesicht nach unten auf die Ledersitze. Der Mann, der sie in den Wagen gestoßen hatte, stieg neben ihr ein, ein anderer auf der gegenüberliegenden Seite. Die Türen wurden zugeschlagen, und die beiden Autos fuhren an. Sie begann zu schreien, während der Wagen losbrauste und heftig schleuderte, als der Fahrer im dichten Verkehr mehrmals die Spur wechselte und in Richtung Arc de Triomphe raste. Die Hand, die auf sie zukam, spürte sie eher, als dass sie sie gesehen hätte. Sie nahm einen scharfen, beißenden Geruch wahr, der ihre Sinne benebelte, und ihr wurde schwarz vor Augen.
September 1981 Malvern, England
Irgendwann während der Fahrt schreckte sie plötzlich aus dem Schlaf. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie wieder zu Hause im Hinterhof und beobachtete Poppie, die im gleißenden Licht des Johannesburger Sommers Wäsche aufhängte. Einen Moment lang hörte sie das kreischende Lachen ihres Cousins Hennie und ihrer Cousine Marika, die im Pool am Ende des Gartens Abkühlung suchten. Der Pool. Fast automatisch kamen ihr die Tränen. Sie schüttelte schnell den Kopf und zwang sich, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. An Südafrika. Das war vorbei. Jetzt war sie in England. Sie sah aus dem Fenster, während der Mercedes von Heathrow nach Malvern fuhr, in den Westen des Landes. Grauer Himmel, graue Felder. niedrig hängende, dichte Wolken, ständig drohender Regen. Es war so anders als das Licht und die Weite, die sie gerade hinter sich gelassen hatte, Welten entfernt von dem klaren Himmel über dem hohen Buschland und den sich weit öffnenden Landschaften des Westkaps. Regentropfen liefen über die Windschutzscheibe, langsam und trüb wie Speichel, der das Licht abhielt und die Grenzen zwischen Wolken und Himmel verschwimmen ließ. England. Sie erschauerte. Nie hatte sie sich so allein gefühlt. Sie drückte sich noch tiefer in die weichen Ledersitze und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Dann schloss sie die Augen wieder. Noch immer konnte sie ihre Gesichter in der Abflughalle vor sich sehen - Marikas verheult, Hennies traurig, das ihrer Tante Lisette besorgt und schuldbewusst. Rianne, deren Herz bis zum Hals klopfte, ignorierte sie. Sie wurde fortgeschickt. Lisette verstieß sie aus der einzigen Familie, die sie hatte, nachdem zuerst ihre Mutter und dann ihr Vater gestorben war. Sie zitterte vor Wut und Angst. Aber sie war entschlossen, es nicht zu zeigen. Ein letztes Mal umarmte sie Marika, dann wandte sie sich ab, nahm ihre Reisetasche und verschwand durch die Tür des Erste-Klasse-Bereichs, ohne sich noch einmal umzublicken. Hauptsache, Lisette merkte nicht, dass sie weinte. Rasch ging sie zu ihrem Platz. Sie ignorierte die Anteil nehmenden Blicke der Stewardessen und schluckte ihre Tränen hinunter. Sich von Marika und Hennie zu verabschieden, war schwer gewesen, aber Poppie Lebewohl zu sagen, war am allerschwersten. Poppie war Dienstmädchen, Haushälterin, Ersatzmutter, Hüterin von Geheimnissen und beste Freundin in einem. Rianne hatte sich schon oft von ihr verabschiedet. Bevor sie abfuhr, um bei den Verwandten ihrer Mutter den südafrikanischen Winter gegen den europäischen Sommer einzutauschen oder um mit Tante Lisette und deren Geschäftspartnern einen Monat in New York zu verbringen. Aber sie war immer wieder zurückgekehrt, nach Hause zu Poppie und dem warmen, vertrauten Geruch, der sie umgeben hatte, so lange sie denken konnte. Poppie war es gewesen, die sie festgehalten und ihr den Kopf weggedreht hatte, als die Leiche ihrer Mutter aus dem Pool gezogen wurde. Zu Poppie war sie gelaufen, nachdem ihr Vater verschwunden war und Lisette ihr gesagt hatte, dass er tot sei. Und es war Poppie gewesen, die eingriff, als Lisette ihr sagte, dass es das Beste für sie sei, Vergelegen und die schrecklichen Erinnerungen, die mit dem Haus verbunden waren, hinter sich zu lassen und bei ihr in Johannesburg zu wohnen. Rianne reagierte hysterisch und weigerte sich zu gehen, verzweifelt klammerte sie sich an Poppie und schrie, dass sie lieber sterben wolle, als Poppie zurückzulassen. Also ging Poppie mit und zog mitsamt ihren eigenen Kindern in Lisettes elegante, weitläufige Villa in einem der nördlichen Vororte. Rianne wäre unter keinen Umständen ohne sie gegangen. Und jetzt ließ sie sie zurück. Allein der Gedanke daran schmerzte. Sie schluckte die Tränen hinunter. Der Chauffeur warf schnell einen Blick nach hinten, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. Er fragte sich, wer sie war. Seine Anweisungen hatten nur gelautet, eine Miss de Zoete aus dem Penhaligon Hotel in Heathrow abzuholen und sie im Internat abzuliefern. Er war im Osten von London geboren und aufgewachsen, und ihr Name sagte ihm nichts. Wer war sie?
Sie war Rianne Marie Françoise de Zoete, Tochter des verschwundenen Tycoons Marius de Zoete, Nichte der mächtigsten Unternehmerin Südafrikas, Lisette de Zoete-Koestler, und Erbin des riesigen Vermögens der De Zoete-Minen-gesellschaft. Sie war sechzehn, reich, schön und verwöhnt. Groß und schlank, mit dichtem blondem Haar, das ihr bis zur Taille reichte, hohen Wangenknochen und ungewöhnlich dunklen, mandelförmigen Augen. Den Augen ihrer Mutter. Und dem Temperament ihres Vaters. Ihre Mutter Céline de Ribain, die in Frankreich zu den oberen Zehntausend gehörte, war neunzehn, als sie den jungen Südafrikaner auf einem Londoner Ball kennen lernte, der von gemeinsamen Freunden organisiert worden war. Sie fand ihn einnehmend, sogar charmant. Obwohl sein Französisch entsetzlich und seine Englischkenntnisse mäßig waren, war sie fasziniert. Ihre Eltern waren besorgt. Trotz seines Reichtums fanden sie ihn ungeschliffen, ungebildet und neureich. Als sie ihn drei Monate später heiratete, waren sie entsetzt und beängstigt. Wozu sie allen Grund hatten. Bevor sie realisierten, was geschehen war, war sie fort und begann ein neues Leben am 'Ende der Welt', wie sie sich ausdrückten, von dem sie keinerlei Vorstellung hatten.