Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Verfasser nicht allein seine 'Ambition', ein 'möglichst facettenreiches Bild des Gegenstands 'Literatur und Literaturwissenschaft' '(S. 24) zu zeichnen, befriedigt hat, sondern auf gut lesbare Weise auch das wissenschaftliche Informationsbedürfnis des Lesers. Daneben hat er gleichsam en passant ein Ziel erreicht, das nicht einmal im Vordergrund seiner Untersuchung steht. Behrs Arbeit destruiert gründlich die zähe, bis heute verbreitete Legende, dass sich die Literaturwissenschaft erst mit dem 20. Jahrhundert der Gegenwartsliteratur zugewandt habe. Wilhelm Scherer und Erich Schmidt sind, so Behrs, 'Pioniere' (S. 61), die 'systematisch daran arbeiten, dass die Gegenwartsliteratur' (S. 294) in den Kreis der literaturwissenschaftlichen Gegenstände aufgenommen wird, was in Forschung und Lehre gegen Ende des Jahrhunderts zur Praxis wird. Am 13. Juni 1894 schrieb der Euphorion-Herausgeber August Sauer aus Prag an seinen Grazer Kollegen Bernhard Seuffert: 'Alles verlangt im Euph[orion] Berücksichtigung der modernsten Litt[eratur]. Ich habe einen Aufsatz skizziert: Litteraturgeschichte u. Litteraturkritik, den ich vielleicht an die Spitze des 3. Heftes stelle, wenn sich diese Stimmen mehren.'
Der Dichter und sein Denker
Wechselwirkungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in Realismus und Expressionismus
von Jan BehrsSeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts analysiert, kategorisiert und bewertet die Institution Literaturwissenschaft zeitgenössische Werke: eine neue Situation für die Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Es kommt zu Allianzen, aber auch zu Auseinandersetzungen und Abgrenzungsversuchen zwischen Beobachtern und Beobachteten, die nicht folgenlos für die literarischen und wissenschaftlichen Texte bleiben und die dennoch in erstaunlich geringem Maße Gegenstand germanistischer oder germanistikgeschichtlicher Aufmerksamkeit geworden sind.
Die vorliegende Arbeit schließt diese Lücke, indem sie zum einen die Interaktion zwischen Kunst und Wissenschaft in systematischer Perspektive beleuchtet, zum anderen mit Realismus und Expressionismus zwei für das Thema einschlägige Epochen detailliert untersucht. Fallstudien zu Theodor Storm, Gottfried Keller, Walter Hasenclever, Ernst Stadler, Kurt Pinthus und anderen zeigen, dass die komplementäre Abhängigkeit von Selbst- und Fremdreflexivität sich in jeweils eigener, aber immer durchaus anspruchsvoller Weise verwirklicht.