
×
Architektur, Wissensvermittlung, Lernorte
Learning Spaces
Gebäude als Infrastrukturen
Anne Lacaton
Die Verleihung des Pritzker-Preises 2021 an Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal ist eine verdiente Würdigung der herausragenden Leistungen ihres Büros bei der Planung und Gestaltung öffentlicher Gebäude, die finanziell wie gestalterisch mit äußerster Ökonomie der Mittel realisiert wurden. Der Schlüssel zu ihrem Erfolg sind ihr großzügiger Umgang mit Raum und ihr Vertrauen in Spontaneität und Eigeninitiative der Nutzer*innen. Anne Lacaton, bis 2020 Professorin für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich, sprach mit Momoyo Kaijima, Grégoire Farquet und Beatrix Emo über die von Lacaton & Vassal entworfene École Nationale Supérieure d’Architecture de Nantes.
MOMOYO KAIJIMA: In unserer Forschung untersuchen wir Bauten der Bildung und Raumkonzepte, die bestehende pädagogische Methoden infrage stellen und neue Lehr- und Lernformen anregen. Bei eurem 2009 fertiggestellten Projekt für die Architekturfakultät in Nantes fällt besonders der großzügig bemessene Anteil offener, gemeinschaftlich nutzbarer Räume auf. Für einen öffentlichen Auftrag ist das recht ungewöhnlich, denn häufig muss man bei solchen Gebäuden mit sehr knappen Budgets auskommen, was Extras kaum zulässt. Wie sah das ursprüngliche Raumprogramm aus? Und wie ist es euch gelungen, die öffentliche Verwaltung als Bauherrin von dermaßen viel zusätzlichem, programmatisch nicht festgelegtem Raum zu überzeugen? ANNE LACATON: Das offizielle Raumprogramm des französischen Kulturministeriums war sehr übersichtlich und gab lediglich für die Nutzungen ungefähre Raumgrößen vor. Darüber hinaus erhielten wir ein zehnseitiges Dokument, das eine Gruppe von Professor*innen, Studierenden und Angestellten in Abstimmung mit dem Dekan der Fakultät ausgearbeitet hatte. Darin waren die Erwartungen der Schule klar und präzise formuliert, weshalb es für uns auch eine wichtigere Referenz darstellte als die offiziellen Vorgaben des Ministeriums. Nachdem wir den Wettbewerb gewonnen hatten, bildete dieses Dokument die Grundlage für intensive Gespräche mit der Schule, die eine Vielzahl an Anpassungen im Entwurfsprozess ermöglichten. Das ursprüngliche Raumprogramm blieb im Prinzip gleich, aber das Projekt konnte durch diesen Austausch stark verbessert werden. Wir eliminierten ungefähr 80 Prozent der Trennwände und befreiten den Raum von einer, wie wir fanden, übermäßigen funktionalen Fragmentierung. Auf diese Weise konnten wir sehr viel Raum schaffen, der in der Nutzung nicht festgelegt ist. Ziel bei allen unseren Projekten ist es, ein Maximum an Aneignungsmöglichkeiten und Flexibilität anzubieten, um die Nutzer*innen aktiv in den Entwurf einzubinden. In Nantes führten wir sogar eine eigens dafür geschaffene Stelle mit der Berufsbezeichnung maîtres d’usage ein, die die Nutzer*innen professionell vertritt – in Anlehnung an die in Frankreich üblichen Positionen maîtrise d’œuvre (Bauleitung) und maître d’ouvrage (Bauherrschaft). Das half uns nicht nur bei der Entwurfsarbeit, sondern bildete auch die Grundlage für die zukünftige Organisation und Verwaltung der Gemeinschaftsräume, deren Nutzung entsprechend den Änderungen des Curriculums von Jahr zu Jahr stark variieren kann. So hat der derzeitige Direktor der Schule, Éric Lengereau, der zuvor Dekan an einer Kunsthochschule war, das klassische Architekturstudium deutlich erweitert: Er führte eine öffentliche Veranstaltungsreihe ein und bietet im ersten Semester ein Modul an, das von einem Tanzensemble unterrichtet wird. Hier lernen die Studienanfänger*innen, Raum mit ihrem Körper zu erfahren und zu analysieren. Solche kreativen Nutzungen und Interventionen sind möglich, weil der viele freie Raum des Gebäudes es zulässt. MOMOYO KAIJIMA: Wie wird der große freie Raum im Erdgeschoss organisiert? Gibt es eine Art Vereinbarung, wie er zu nutzen und zu verwalten ist? Welche Regeln gibt es? ANNE LACATON: Ich persönlich würde hier gar nicht von einem Geschoss sprechen, auch nicht vom Erdgeschoss, sondern eher vom Boden. Denn der Belag besteht wie die umliegenden Straßen aus Asphalt, wodurch sich die Ebene unmittelbar mit der Stadt verbindet. Die Decken sind neun Meter hoch, und es gibt große Schiebetore aus Polycarbonat, so dass der Raum direkt von der Straße aus erschlossen werden kann. Hier werden hauptsächlich Modelle gebaut, aber es finden auch öffentliche Veranstaltungen wie Partys oder Ausstellungen statt. Er ist mehr als doppelt so groß als ursprünglich vorgesehen, eben weil wir die Möglichkeit für Publikumsveranstaltungen anbieten wollten. Einige Nutzungsbedingungen werden von der Verwaltung vorgegeben, andere haben sich eher informell herausgebildet. So lautet eine Regel, dass Gemeinschaftsräume nach der Nutzung wieder in den Zustand zurückzuversetzen sind, in denen sie vorgefunden wurden, und man sie nicht als Lager nutzen darf. Die Räume müssen den nächsten Nutzer*innen in ihrem vollständigen Potential übergeben werden. Wir vertrauen den Menschen. Dieses Vertrauen ist ein Kernprinzip unserer Arbeit. Seit unseren ersten Wohnprojekten lassen wir uns davon leiten, da Wohnstandards überall zu niedrig sind. Die Menschen brauchen jedoch mehr als nur den Standard. Uns ist es ein großes Anliegen, den Menschen zumindest etwas zusätzlichen Raum ohne zugewiesene Funktion zu geben, ein Raum, der nicht bereits verplant ist. Wir vertrauen darauf, dass die Menschen diesen Raum gut nutzen werden. GRÉGOIRE FARQUET: Wird dieser zusätzliche Raum innerhalb des Kostenrahmens realisiert? ANNE LACATON: Ja, das ist sehr wichtig, es wäre sonst weder fair noch umsetzbar. Mehr Raum anzubieten ist ein Kernprinzip all unserer Projekte. Wir sehen das als wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung von Wohnstandards an, und zwar unabhängig vom Raumprogramm. Räumliche Großzügigkeit sollte nicht vom Budget abhängen – auf dieser Idee fußt unsere architektonische Praxis. Das heißt nicht, dass die Einhaltung des Budgets für uns nicht wichtig wäre. Wir arbeiten immer sehr wirtschaftlich, was aber eben nicht automatisch heißen muss, Raum auf das Minimum zu reduzieren; eher das Gegenteil ist der Fall: Wir schaffen die richtigen Rahmenbedingungen, um mehr Raum ohne zusätzliche Kosten anbieten zu können. Großzügigkeit bedeutet, das funktionale Konzept des Existenzminimums hinter sich zu lassen. Wir müssen das Bewohnen des Raums in den Mittelpunkt stellen. Und Bewohnen meint mehr als nur den Aufenthalt in einem Raum; es bedeutet, eins zu werden mit diesem Raum, sich dort habituell niederzulassen, sich im Wortsinne mit seinen Gewohnheiten einzurichten. Meiner Ansicht nach muss es das Ziel von uns Architekt*innen sein, dieses Bewohnen durch ein sorgfältiges Austarieren von funktionalem und freiem Raum zu ermöglichen. GRÉGOIRE FARQUET: Freier Raum wird als solcher durch das Raumprogramm definiert. Die physische Nähe von funktionalem und freiem Raum ist ausschlaggebend. Beim Campus Hönggerberg der ETH Zürich, auf dem wir uns gerade befinden, lädt das Café beispielsweise die Menschen dazu ein, es als Extraraum zum Lernen zu nutzen, weil es unmittelbar an die formaleren Seminarräume innerhalb des Campus angrenzt. Aber lässt sich jedes Café als freier Raum betrachten, einfach weil es an einen in seiner Funktion festgelegten Raum angrenzt? ANNE LACATON: Cafés sind ja quasi so angelegt, dass sie auch die Rolle eines freien Raums einnehmen. Trotzdem ist ein Café immer noch ein Café, es erfüllt eine festgelegte Funktion. Wenn ich von freiem Raum spreche, meine ich vor allem einen Raum, der die Funktion hat, Druck vom Raumprogramm zu nehmen. Es ist ein Raum, der uns von den Zwängen der Funktion befreit. Erst in der Kombination der beiden entstehen neue Freiheiten und Möglichkeiten. Deshalb planen wir diese Räume als kontinuierliche Raumfolgen, etwa einen Wintergarten, der an eine Wohnung angeschlossen ist, oder einen freien Raum, der einem Klassenzimmer direkt vorgeschaltet ist. Diese Nähe lädt zu Kreativität ein und fördert das Experimentieren. Natürlich kann man das Konzept des freien Raums auch noch weiterdenken und auf den Stadtraum anwenden. Das Rolex Learning Center von SANAA am Campus der École polytechnique fédérale (EPFL) in Lausanne beispielsweise verstehe ich eindeutig als einen freien Raum, der aber mit dem Campus der Universität verbunden ist. Die in Zürich beliebten Kleingärten sind im urbanen Maßstab auch eine Art freier Raum – als Ergänzung zur privaten Wohnung, wobei die räumliche Beziehung zwischen beiden uneindeutiger ist. Es wäre besser, wenn sie sich direkt am Wohnhaus befinden würden, aber sie leisten auch so gute Dienste, obwohl diese Unmittelbarkeit nicht gegeben ist. Uns ist letztlich wichtig herauszuarbeiten, dass freier Raum untrennbar mit dem Raumprogramm zusammenhängt. Auch wenn sie nicht direkt verbunden sind, müssen sie als komplementäre Räume gedacht werden, zu denen die Nutzer*innen ungehinderten Zugang haben müssen. MOMOYO KAIJIMA: Freier Raum ist eine Art Testgelände, um mit unterschiedlichen Graden von Offenheit zu experimentieren, aber es kann auch ein sehr regulierter Raum sein. Es bedeutet nicht, dass hier alle alles tun können. ANNE LACATON: Genau, das bedeutet es nicht. Freier Raum, so wie wir ihn definieren, ist ein Raum der Freiheit, der einen regulierten Raum ausbalanciert. Er wird weder von einer spezifischen Funktion noch Vorgaben bestimmt, vielmehr ist seine Freiheit an Entscheidungen gebunden, die aus einem gemeinschaftlichen Projekt resultieren. Es ist eine Freiheit, die ausgehandelt werden muss. BEATRIX EMO: Bei unserer Arbeit mit Kognitionswissenschaftler*innen evaluieren wir unter anderem, wie Studierende Lernräume nutzen und erleben. Inwiefern spiegelt sich das Nebeneinander von freiem Raum und Programm im Verhalten der Nutzer*innen wider? Studierende mögen Orte, die sie sich aneignen können; aber freie Räume zu definieren, die lehrstuhlübergreifend von allen Studierenden genutzt werden können, ist eine Herausforderung. An der ETH Zürich werden diesbezüglich viele Gedanken in die Möblierung gesteckt. Aber es geht nicht nur darum, das richtige Mobiliar zu finden: Eine demokratische Aufteilung des Raums ist ein komplexer bürokratischer Prozess. ANNE LACATON: Raumaufteilung hat nichts mit Mobiliar und Trennwänden zu tun. In Nantes haben wir so viele Trennwände wie möglich entfernt. Das war nur machbar, weil der Raum deutlich größer wurde als im ursprünglichen Raumprogramm vorgesehen. Die Architekturhochschule in Winterthur (ZHAW) ist in diesem Zusammenhang ein sehr interessantes Beispiel: Dort wurde ein bereits bestehendes Gebäude adaptiert, aber es wurden keinerlei neue Trennwände eingezogen. Lediglich Zwischengeschosse und Vorhänge grenzen die Entwurfsstudios voneinander ab (siehe den Beitrag von Martin Tschanz in dieser Ausgabe). Die Gund Hall an der Harvard Graduate School of Design (GSD) funktioniert ähnlich. Wenn ein Raum groß genug ist, kann man auch ohne Trennwände Distanz zwischen Menschen und Objekten herstellen. Das haben Jean-Philippe und ich in Afrika gelernt, wo die Menschen oft von einer Funktion zur anderen wechseln, indem sie sich einfach einen anderen freien Platz im Raum suchen. Dafür braucht es gar keine Markierung durch eine Schwelle. Raum wird dort in Nutzungsarealen gedacht. Ist ein Areal von einer Gruppe belegt, halten die anderen den Abstand, den sie für notwendig erachten, damit sich alle wohlfühlen und Konflikte vermieden werden. Viele Konflikte bei der gemeinschaftlichen Nutzung von Räumen entstehen, weil die Menschen mit einem absoluten Minimum auskommen müssen. Wenn sie das dann auch noch teilen müssen, kann das nicht funktionieren. Steht einem dagegen das Maximum zur Verfügung, ist eine erfolgreiche Nutzung wahrscheinlicher. Freiheit braucht Raumfülle und Großzügigkeit, und sogar dann ist es niemals einfach, Freiheit hinzubekommen. Man ist gezwungen, sich einzubringen, sich zu organisieren, zu diskutieren, kreativ zu sein, Verantwortung zu übernehmen. Man geht viele Lernschritte, aber das ist deutlich interessanter, als sich Regeln unterwerfen zu müssen, die einfach irgendwer für einen aufgestellt hat. Freien Raum frei zu halten ist eine schwierige Aufgabe. Und auch wenn es gelingt, besteht immer das Risiko, dass er nicht verstanden wird, nicht genutzt wird, als Abstellkammer herhalten muss oder vollgestellt wird und so sein Potential verliert. Das Risiko zu scheitern ist aber kein Grund, solch einen Raum nicht einzuplanen. Wenn man eine Architekturschule entwirft, ist Raum von besonderer Bedeutung, da er selbst Lerngegenstand und – wie bei kaum einer anderen Bildungseinrichtung – ein pädagogisches Element darstellt. In Nantes bietet sich den Studierenden ein Raum fast ohne funktionale Festlegungen. Dieser Verzicht auf Vorgaben ist deshalb interessant, weil er die Menschen zwingt, sich zu positionieren, sich Fragen zu stellen. Die Studierenden können den Raum interpretieren und entscheiden, wie sie damit umgehen, aber damit dies geschieht, muss der Raum Möglichkeiten und Potentiale buchstäblich in sich tragen. Die Decken sind hier wie gesagt sehr hoch und die Tragfähigkeit des Bodens liegt bei einer Tonne pro Quadratmeter, was das Einbringen schwerer Lasten erlaubt. Es gibt eine Rampe, die bis auf die Dachterrasse führt. Man könnte mit einem Laster bis ganz nach oben fahren, um dort etwas zu bauen, etwa eine parasitäre Konstruktion, ein Zirkuszelt oder was auch immer. Und genau das meine ich, wenn ich davon spreche, dass unsere Entwürfe ein Maximum an Möglichkeiten bieten. GRÉGOIRE FARQUET: Das heißt, ihr denkt Gebäude als Infrastrukturen? ANNE LACATON: Ja, diese Art von Gebäuden hat zwei Gestaltungsebenen: Die erste Ebene ist die der In-frastruktur und besteht aus mehreren Geschossdecken mit hoher Tragfähigkeit. Die zweite Ebene sind die Einbauten aus eher leichten und veränderbaren Materialien. Diese sind an die aktuelle Funktion des Gebäudes angepasst, können aber verändert oder versetzt werden, wenn es eine Funktion in der Zukunft erfordert. Mit dieser Entwurfsstrategie lässt sich die mögliche zukünftige Entwicklung des Gebäudes gleich zu Beginn mitdenken. MOMOYO KAIJIMA: Ein nicht vordefinierter Raum lädt dazu ein, kreativ zu sein, experimentell und anders zu agieren. Gibt man einen Raum mit vier Wänden vor, sagt man damit in gewisser Weise: „Dies ist der Raum, bleib darin.“ Ein offener Raum hat eine interessante psychologische Wirkung: Man spürt sofort ein Gefühl von Freiheit. ANNE LACATON: Ein zu kleiner Raum führt zu Frustration, weil man sich nicht zurückziehen kann. Die Rückzugsmöglichkeit ist für unseren Entwurfsansatz sehr wichtig. Wir versuchen immer Räume zu planen, die sich öffnen und so einen physischen oder geistigen Rückzug ermöglichen, indem man seinen Blick oder seine Gedanken schweifen lassen kann. Rückzug, sowohl real als auch im metaphorischen Sinne, ist für den kreativen Prozess unerlässlich. Als solcher ist dieser nicht immer linear. Zum Experiment gehört daher die Möglichkeit, sich neu auszurichten, dazu. Der Raum muss diese Veränderung zulassen. Hier gibt es dann auch einen direkten Bezug zur Idee des Temporären, die aus meiner Sicht ein häufig missverstandenes Konzept in der Architektur ist: Eine temporäre Architektur muss nicht notwendigerweise flüchtig oder weniger dauerhaft sein. Vielmehr ist damit ein Raum gemeint, der nicht langfristig funktional festgelegt und offen für Veränderungen ist, und der die Möglichkeit der Erneuerung in sich trägt. Ein Gebäude also, dessen Entwurf eine Form der Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit beinhaltet. Bei diesem Ansatz steht die Anpassungsfähigkeit eines Raumes im Mittelpunkt. Daraus ergeben sich ganz andere Überlegungen hinsichtlich ästhetischer Werte, Bauweisen und der Bauökonomie, was den Weg zurück zu den ganzheitlichen Grundprinzipien von Nachhaltigkeit ebnet. GRÉGOIRE FARQUET: Manchmal geht es bei temporären Projekten auch einfach darum, Selbstvertrauen aufzubauen. ANNE LACATON: Da hast du recht. Auch der offene, nicht determinierte Raum ist ein Mittel, um Selbstvertrauen zu stärken. Einen übermäßig gestalteten oder stark vordefinierten Raum können sich die Nutzer*innen nur schwer aneignen, da sie immer fürchten müssen, gegen die Architektur zu arbeiten. Etwas Temporäres profitiert dagegen von der Einfachheit und Ehrlichkeit der gestalterischen Geste, die zu einer Aneignung einladen. Das hat auch mit der Ökonomie der Mittel zu tun. Wenn man weniger Geld zur Verfügung hat, muss man sich auf die wesentlichen Eigenschaften von Raum konzentrieren, ohne dass seine Qualität dadurch kleiner wird. Außerdem kommt beim Temporären hinzu, dass es leichter ist, Regeln und Normen zu umgehen, weil man in einem anderen Zeitrahmen agiert. Es gibt da eine größere Bereitschaft, gestalterische Freiheiten zu akzeptieren. Die Architekturfakultät der TU Delft ist hierfür ein gutes Beispiel (siehe das Interview mit Tom Avermaete in dieser Ausgabe). Ich habe dort 2016/17 ein Semester lang unterrichtet. Gleich bei meiner Ankunft spürte ich eine Freiheit, die ich mir nicht so recht erklären konnte, insbesondere weil die Fakultät in einem alten, strengen Backsteingebäude untergebracht ist. Aber als ich von der Geschichte der Schule erfuhr, war mir klar, woher dieses Gefühl von Freiheit kam: Nachdem die alte von Van den Broek und Bakema gebaute Architekturfakultät 2008 abgebrannt war, richtete man die Schule auf die Schnelle und temporär in einem existierenden Verwaltungsgebäude der TU ein. Passieren musste das innerhalb eines Sommers. Ursprünglich sollte die Fakultät nur so lange dort bleiben, bis die alte Schule wieder aufgebaut war, aber nach einiger Zeit beschloss man, sich dort dauerhaft einzurichten. Zwei bestehende Innenhöfe wurden überdacht und mit Glaswänden eingefasst. Heute dienen sie hauptsächlich als Hörsaal und Werkstatt, aber auch viele andere Gemeinschaftsaktivitäten finden dort statt. Alles wurde mit viel Liebe zum Detail, aber zugleich auch mit großer Schlichtheit realisiert, da für die Arbeiten nur wenig Zeit zur Verfügung stand. Viele Leitungen und Kabel sind offen verlegt, was sicherlich nicht so gemacht worden wäre, wenn man gewusst hätte, dass die Fakultät dauerhaft hier bleiben würde. Das Gebäude als temporäre Lösung anzusehen, führte dazu, dass man sich bei der Gestaltung auf das absolut Notwendige konzentrierte. Das hat sich in diesem Fall als das genau Richtige erwiesen. Ich bin überzeugt, dass mein Gefühl von Freiheit, das ich sofort spürte, von der Leichtigkeit, Klarheit und Schlichtheit der Gestaltung kam, die viel Raum für Flexibilität und Aneignung lässt. Genau das haben wir beim Neubau in Nantes ebenfalls versucht umzusetzen: Wir wollten eine intelligente und offene Infrastruktur gestalten, die dauerhaft ist, aber eine große Freiheit für spätere Nutzungsänderungen ermöglicht. GRÉGOIRE FARQUET: Was macht ihr, wenn ihr es mit Bestandsgebäuden zu tun habt, bei denen es einfach kein Potential für freie Räume gibt? Haltet ihr dennoch an eurer Strategie fest? Befreit ihr so viel Raum wie möglich von Funktionen? ANNE LACATON: Jede Bestandssituation geht mit gewissen Beschränkungen einher, aber wir suchen immer nach Wegen, um so viel freien Raum wie möglich zu schaffen. Wir entfernen Trennwände, machen Anbauten … es gibt immer eine Lösung. Wichtig ist einfach, dass man nicht aufgibt, bevor man es zumindest versucht hat.
Anne Lacaton im Gespräch mit Momoyo Kaijima, Grégoire Farquet und Beatrix Emo
Die Verleihung des Pritzker-Preises 2021 an Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal ist eine verdiente Würdigung der herausragenden Leistungen ihres Büros bei der Planung und Gestaltung öffentlicher Gebäude, die finanziell wie gestalterisch mit äußerster Ökonomie der Mittel realisiert wurden. Der Schlüssel zu ihrem Erfolg sind ihr großzügiger Umgang mit Raum und ihr Vertrauen in Spontaneität und Eigeninitiative der Nutzer*innen. Anne Lacaton, bis 2020 Professorin für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich, sprach mit Momoyo Kaijima, Grégoire Farquet und Beatrix Emo über die von Lacaton & Vassal entworfene École Nationale Supérieure d’Architecture de Nantes.
MOMOYO KAIJIMA: In unserer Forschung untersuchen wir Bauten der Bildung und Raumkonzepte, die bestehende pädagogische Methoden infrage stellen und neue Lehr- und Lernformen anregen. Bei eurem 2009 fertiggestellten Projekt für die Architekturfakultät in Nantes fällt besonders der großzügig bemessene Anteil offener, gemeinschaftlich nutzbarer Räume auf. Für einen öffentlichen Auftrag ist das recht ungewöhnlich, denn häufig muss man bei solchen Gebäuden mit sehr knappen Budgets auskommen, was Extras kaum zulässt. Wie sah das ursprüngliche Raumprogramm aus? Und wie ist es euch gelungen, die öffentliche Verwaltung als Bauherrin von dermaßen viel zusätzlichem, programmatisch nicht festgelegtem Raum zu überzeugen? ANNE LACATON: Das offizielle Raumprogramm des französischen Kulturministeriums war sehr übersichtlich und gab lediglich für die Nutzungen ungefähre Raumgrößen vor. Darüber hinaus erhielten wir ein zehnseitiges Dokument, das eine Gruppe von Professor*innen, Studierenden und Angestellten in Abstimmung mit dem Dekan der Fakultät ausgearbeitet hatte. Darin waren die Erwartungen der Schule klar und präzise formuliert, weshalb es für uns auch eine wichtigere Referenz darstellte als die offiziellen Vorgaben des Ministeriums. Nachdem wir den Wettbewerb gewonnen hatten, bildete dieses Dokument die Grundlage für intensive Gespräche mit der Schule, die eine Vielzahl an Anpassungen im Entwurfsprozess ermöglichten. Das ursprüngliche Raumprogramm blieb im Prinzip gleich, aber das Projekt konnte durch diesen Austausch stark verbessert werden. Wir eliminierten ungefähr 80 Prozent der Trennwände und befreiten den Raum von einer, wie wir fanden, übermäßigen funktionalen Fragmentierung. Auf diese Weise konnten wir sehr viel Raum schaffen, der in der Nutzung nicht festgelegt ist. Ziel bei allen unseren Projekten ist es, ein Maximum an Aneignungsmöglichkeiten und Flexibilität anzubieten, um die Nutzer*innen aktiv in den Entwurf einzubinden. In Nantes führten wir sogar eine eigens dafür geschaffene Stelle mit der Berufsbezeichnung maîtres d’usage ein, die die Nutzer*innen professionell vertritt – in Anlehnung an die in Frankreich üblichen Positionen maîtrise d’œuvre (Bauleitung) und maître d’ouvrage (Bauherrschaft). Das half uns nicht nur bei der Entwurfsarbeit, sondern bildete auch die Grundlage für die zukünftige Organisation und Verwaltung der Gemeinschaftsräume, deren Nutzung entsprechend den Änderungen des Curriculums von Jahr zu Jahr stark variieren kann. So hat der derzeitige Direktor der Schule, Éric Lengereau, der zuvor Dekan an einer Kunsthochschule war, das klassische Architekturstudium deutlich erweitert: Er führte eine öffentliche Veranstaltungsreihe ein und bietet im ersten Semester ein Modul an, das von einem Tanzensemble unterrichtet wird. Hier lernen die Studienanfänger*innen, Raum mit ihrem Körper zu erfahren und zu analysieren. Solche kreativen Nutzungen und Interventionen sind möglich, weil der viele freie Raum des Gebäudes es zulässt. MOMOYO KAIJIMA: Wie wird der große freie Raum im Erdgeschoss organisiert? Gibt es eine Art Vereinbarung, wie er zu nutzen und zu verwalten ist? Welche Regeln gibt es? ANNE LACATON: Ich persönlich würde hier gar nicht von einem Geschoss sprechen, auch nicht vom Erdgeschoss, sondern eher vom Boden. Denn der Belag besteht wie die umliegenden Straßen aus Asphalt, wodurch sich die Ebene unmittelbar mit der Stadt verbindet. Die Decken sind neun Meter hoch, und es gibt große Schiebetore aus Polycarbonat, so dass der Raum direkt von der Straße aus erschlossen werden kann. Hier werden hauptsächlich Modelle gebaut, aber es finden auch öffentliche Veranstaltungen wie Partys oder Ausstellungen statt. Er ist mehr als doppelt so groß als ursprünglich vorgesehen, eben weil wir die Möglichkeit für Publikumsveranstaltungen anbieten wollten. Einige Nutzungsbedingungen werden von der Verwaltung vorgegeben, andere haben sich eher informell herausgebildet. So lautet eine Regel, dass Gemeinschaftsräume nach der Nutzung wieder in den Zustand zurückzuversetzen sind, in denen sie vorgefunden wurden, und man sie nicht als Lager nutzen darf. Die Räume müssen den nächsten Nutzer*innen in ihrem vollständigen Potential übergeben werden. Wir vertrauen den Menschen. Dieses Vertrauen ist ein Kernprinzip unserer Arbeit. Seit unseren ersten Wohnprojekten lassen wir uns davon leiten, da Wohnstandards überall zu niedrig sind. Die Menschen brauchen jedoch mehr als nur den Standard. Uns ist es ein großes Anliegen, den Menschen zumindest etwas zusätzlichen Raum ohne zugewiesene Funktion zu geben, ein Raum, der nicht bereits verplant ist. Wir vertrauen darauf, dass die Menschen diesen Raum gut nutzen werden. GRÉGOIRE FARQUET: Wird dieser zusätzliche Raum innerhalb des Kostenrahmens realisiert? ANNE LACATON: Ja, das ist sehr wichtig, es wäre sonst weder fair noch umsetzbar. Mehr Raum anzubieten ist ein Kernprinzip all unserer Projekte. Wir sehen das als wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung von Wohnstandards an, und zwar unabhängig vom Raumprogramm. Räumliche Großzügigkeit sollte nicht vom Budget abhängen – auf dieser Idee fußt unsere architektonische Praxis. Das heißt nicht, dass die Einhaltung des Budgets für uns nicht wichtig wäre. Wir arbeiten immer sehr wirtschaftlich, was aber eben nicht automatisch heißen muss, Raum auf das Minimum zu reduzieren; eher das Gegenteil ist der Fall: Wir schaffen die richtigen Rahmenbedingungen, um mehr Raum ohne zusätzliche Kosten anbieten zu können. Großzügigkeit bedeutet, das funktionale Konzept des Existenzminimums hinter sich zu lassen. Wir müssen das Bewohnen des Raums in den Mittelpunkt stellen. Und Bewohnen meint mehr als nur den Aufenthalt in einem Raum; es bedeutet, eins zu werden mit diesem Raum, sich dort habituell niederzulassen, sich im Wortsinne mit seinen Gewohnheiten einzurichten. Meiner Ansicht nach muss es das Ziel von uns Architekt*innen sein, dieses Bewohnen durch ein sorgfältiges Austarieren von funktionalem und freiem Raum zu ermöglichen. GRÉGOIRE FARQUET: Freier Raum wird als solcher durch das Raumprogramm definiert. Die physische Nähe von funktionalem und freiem Raum ist ausschlaggebend. Beim Campus Hönggerberg der ETH Zürich, auf dem wir uns gerade befinden, lädt das Café beispielsweise die Menschen dazu ein, es als Extraraum zum Lernen zu nutzen, weil es unmittelbar an die formaleren Seminarräume innerhalb des Campus angrenzt. Aber lässt sich jedes Café als freier Raum betrachten, einfach weil es an einen in seiner Funktion festgelegten Raum angrenzt? ANNE LACATON: Cafés sind ja quasi so angelegt, dass sie auch die Rolle eines freien Raums einnehmen. Trotzdem ist ein Café immer noch ein Café, es erfüllt eine festgelegte Funktion. Wenn ich von freiem Raum spreche, meine ich vor allem einen Raum, der die Funktion hat, Druck vom Raumprogramm zu nehmen. Es ist ein Raum, der uns von den Zwängen der Funktion befreit. Erst in der Kombination der beiden entstehen neue Freiheiten und Möglichkeiten. Deshalb planen wir diese Räume als kontinuierliche Raumfolgen, etwa einen Wintergarten, der an eine Wohnung angeschlossen ist, oder einen freien Raum, der einem Klassenzimmer direkt vorgeschaltet ist. Diese Nähe lädt zu Kreativität ein und fördert das Experimentieren. Natürlich kann man das Konzept des freien Raums auch noch weiterdenken und auf den Stadtraum anwenden. Das Rolex Learning Center von SANAA am Campus der École polytechnique fédérale (EPFL) in Lausanne beispielsweise verstehe ich eindeutig als einen freien Raum, der aber mit dem Campus der Universität verbunden ist. Die in Zürich beliebten Kleingärten sind im urbanen Maßstab auch eine Art freier Raum – als Ergänzung zur privaten Wohnung, wobei die räumliche Beziehung zwischen beiden uneindeutiger ist. Es wäre besser, wenn sie sich direkt am Wohnhaus befinden würden, aber sie leisten auch so gute Dienste, obwohl diese Unmittelbarkeit nicht gegeben ist. Uns ist letztlich wichtig herauszuarbeiten, dass freier Raum untrennbar mit dem Raumprogramm zusammenhängt. Auch wenn sie nicht direkt verbunden sind, müssen sie als komplementäre Räume gedacht werden, zu denen die Nutzer*innen ungehinderten Zugang haben müssen. MOMOYO KAIJIMA: Freier Raum ist eine Art Testgelände, um mit unterschiedlichen Graden von Offenheit zu experimentieren, aber es kann auch ein sehr regulierter Raum sein. Es bedeutet nicht, dass hier alle alles tun können. ANNE LACATON: Genau, das bedeutet es nicht. Freier Raum, so wie wir ihn definieren, ist ein Raum der Freiheit, der einen regulierten Raum ausbalanciert. Er wird weder von einer spezifischen Funktion noch Vorgaben bestimmt, vielmehr ist seine Freiheit an Entscheidungen gebunden, die aus einem gemeinschaftlichen Projekt resultieren. Es ist eine Freiheit, die ausgehandelt werden muss. BEATRIX EMO: Bei unserer Arbeit mit Kognitionswissenschaftler*innen evaluieren wir unter anderem, wie Studierende Lernräume nutzen und erleben. Inwiefern spiegelt sich das Nebeneinander von freiem Raum und Programm im Verhalten der Nutzer*innen wider? Studierende mögen Orte, die sie sich aneignen können; aber freie Räume zu definieren, die lehrstuhlübergreifend von allen Studierenden genutzt werden können, ist eine Herausforderung. An der ETH Zürich werden diesbezüglich viele Gedanken in die Möblierung gesteckt. Aber es geht nicht nur darum, das richtige Mobiliar zu finden: Eine demokratische Aufteilung des Raums ist ein komplexer bürokratischer Prozess. ANNE LACATON: Raumaufteilung hat nichts mit Mobiliar und Trennwänden zu tun. In Nantes haben wir so viele Trennwände wie möglich entfernt. Das war nur machbar, weil der Raum deutlich größer wurde als im ursprünglichen Raumprogramm vorgesehen. Die Architekturhochschule in Winterthur (ZHAW) ist in diesem Zusammenhang ein sehr interessantes Beispiel: Dort wurde ein bereits bestehendes Gebäude adaptiert, aber es wurden keinerlei neue Trennwände eingezogen. Lediglich Zwischengeschosse und Vorhänge grenzen die Entwurfsstudios voneinander ab (siehe den Beitrag von Martin Tschanz in dieser Ausgabe). Die Gund Hall an der Harvard Graduate School of Design (GSD) funktioniert ähnlich. Wenn ein Raum groß genug ist, kann man auch ohne Trennwände Distanz zwischen Menschen und Objekten herstellen. Das haben Jean-Philippe und ich in Afrika gelernt, wo die Menschen oft von einer Funktion zur anderen wechseln, indem sie sich einfach einen anderen freien Platz im Raum suchen. Dafür braucht es gar keine Markierung durch eine Schwelle. Raum wird dort in Nutzungsarealen gedacht. Ist ein Areal von einer Gruppe belegt, halten die anderen den Abstand, den sie für notwendig erachten, damit sich alle wohlfühlen und Konflikte vermieden werden. Viele Konflikte bei der gemeinschaftlichen Nutzung von Räumen entstehen, weil die Menschen mit einem absoluten Minimum auskommen müssen. Wenn sie das dann auch noch teilen müssen, kann das nicht funktionieren. Steht einem dagegen das Maximum zur Verfügung, ist eine erfolgreiche Nutzung wahrscheinlicher. Freiheit braucht Raumfülle und Großzügigkeit, und sogar dann ist es niemals einfach, Freiheit hinzubekommen. Man ist gezwungen, sich einzubringen, sich zu organisieren, zu diskutieren, kreativ zu sein, Verantwortung zu übernehmen. Man geht viele Lernschritte, aber das ist deutlich interessanter, als sich Regeln unterwerfen zu müssen, die einfach irgendwer für einen aufgestellt hat. Freien Raum frei zu halten ist eine schwierige Aufgabe. Und auch wenn es gelingt, besteht immer das Risiko, dass er nicht verstanden wird, nicht genutzt wird, als Abstellkammer herhalten muss oder vollgestellt wird und so sein Potential verliert. Das Risiko zu scheitern ist aber kein Grund, solch einen Raum nicht einzuplanen. Wenn man eine Architekturschule entwirft, ist Raum von besonderer Bedeutung, da er selbst Lerngegenstand und – wie bei kaum einer anderen Bildungseinrichtung – ein pädagogisches Element darstellt. In Nantes bietet sich den Studierenden ein Raum fast ohne funktionale Festlegungen. Dieser Verzicht auf Vorgaben ist deshalb interessant, weil er die Menschen zwingt, sich zu positionieren, sich Fragen zu stellen. Die Studierenden können den Raum interpretieren und entscheiden, wie sie damit umgehen, aber damit dies geschieht, muss der Raum Möglichkeiten und Potentiale buchstäblich in sich tragen. Die Decken sind hier wie gesagt sehr hoch und die Tragfähigkeit des Bodens liegt bei einer Tonne pro Quadratmeter, was das Einbringen schwerer Lasten erlaubt. Es gibt eine Rampe, die bis auf die Dachterrasse führt. Man könnte mit einem Laster bis ganz nach oben fahren, um dort etwas zu bauen, etwa eine parasitäre Konstruktion, ein Zirkuszelt oder was auch immer. Und genau das meine ich, wenn ich davon spreche, dass unsere Entwürfe ein Maximum an Möglichkeiten bieten. GRÉGOIRE FARQUET: Das heißt, ihr denkt Gebäude als Infrastrukturen? ANNE LACATON: Ja, diese Art von Gebäuden hat zwei Gestaltungsebenen: Die erste Ebene ist die der In-frastruktur und besteht aus mehreren Geschossdecken mit hoher Tragfähigkeit. Die zweite Ebene sind die Einbauten aus eher leichten und veränderbaren Materialien. Diese sind an die aktuelle Funktion des Gebäudes angepasst, können aber verändert oder versetzt werden, wenn es eine Funktion in der Zukunft erfordert. Mit dieser Entwurfsstrategie lässt sich die mögliche zukünftige Entwicklung des Gebäudes gleich zu Beginn mitdenken. MOMOYO KAIJIMA: Ein nicht vordefinierter Raum lädt dazu ein, kreativ zu sein, experimentell und anders zu agieren. Gibt man einen Raum mit vier Wänden vor, sagt man damit in gewisser Weise: „Dies ist der Raum, bleib darin.“ Ein offener Raum hat eine interessante psychologische Wirkung: Man spürt sofort ein Gefühl von Freiheit. ANNE LACATON: Ein zu kleiner Raum führt zu Frustration, weil man sich nicht zurückziehen kann. Die Rückzugsmöglichkeit ist für unseren Entwurfsansatz sehr wichtig. Wir versuchen immer Räume zu planen, die sich öffnen und so einen physischen oder geistigen Rückzug ermöglichen, indem man seinen Blick oder seine Gedanken schweifen lassen kann. Rückzug, sowohl real als auch im metaphorischen Sinne, ist für den kreativen Prozess unerlässlich. Als solcher ist dieser nicht immer linear. Zum Experiment gehört daher die Möglichkeit, sich neu auszurichten, dazu. Der Raum muss diese Veränderung zulassen. Hier gibt es dann auch einen direkten Bezug zur Idee des Temporären, die aus meiner Sicht ein häufig missverstandenes Konzept in der Architektur ist: Eine temporäre Architektur muss nicht notwendigerweise flüchtig oder weniger dauerhaft sein. Vielmehr ist damit ein Raum gemeint, der nicht langfristig funktional festgelegt und offen für Veränderungen ist, und der die Möglichkeit der Erneuerung in sich trägt. Ein Gebäude also, dessen Entwurf eine Form der Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit beinhaltet. Bei diesem Ansatz steht die Anpassungsfähigkeit eines Raumes im Mittelpunkt. Daraus ergeben sich ganz andere Überlegungen hinsichtlich ästhetischer Werte, Bauweisen und der Bauökonomie, was den Weg zurück zu den ganzheitlichen Grundprinzipien von Nachhaltigkeit ebnet. GRÉGOIRE FARQUET: Manchmal geht es bei temporären Projekten auch einfach darum, Selbstvertrauen aufzubauen. ANNE LACATON: Da hast du recht. Auch der offene, nicht determinierte Raum ist ein Mittel, um Selbstvertrauen zu stärken. Einen übermäßig gestalteten oder stark vordefinierten Raum können sich die Nutzer*innen nur schwer aneignen, da sie immer fürchten müssen, gegen die Architektur zu arbeiten. Etwas Temporäres profitiert dagegen von der Einfachheit und Ehrlichkeit der gestalterischen Geste, die zu einer Aneignung einladen. Das hat auch mit der Ökonomie der Mittel zu tun. Wenn man weniger Geld zur Verfügung hat, muss man sich auf die wesentlichen Eigenschaften von Raum konzentrieren, ohne dass seine Qualität dadurch kleiner wird. Außerdem kommt beim Temporären hinzu, dass es leichter ist, Regeln und Normen zu umgehen, weil man in einem anderen Zeitrahmen agiert. Es gibt da eine größere Bereitschaft, gestalterische Freiheiten zu akzeptieren. Die Architekturfakultät der TU Delft ist hierfür ein gutes Beispiel (siehe das Interview mit Tom Avermaete in dieser Ausgabe). Ich habe dort 2016/17 ein Semester lang unterrichtet. Gleich bei meiner Ankunft spürte ich eine Freiheit, die ich mir nicht so recht erklären konnte, insbesondere weil die Fakultät in einem alten, strengen Backsteingebäude untergebracht ist. Aber als ich von der Geschichte der Schule erfuhr, war mir klar, woher dieses Gefühl von Freiheit kam: Nachdem die alte von Van den Broek und Bakema gebaute Architekturfakultät 2008 abgebrannt war, richtete man die Schule auf die Schnelle und temporär in einem existierenden Verwaltungsgebäude der TU ein. Passieren musste das innerhalb eines Sommers. Ursprünglich sollte die Fakultät nur so lange dort bleiben, bis die alte Schule wieder aufgebaut war, aber nach einiger Zeit beschloss man, sich dort dauerhaft einzurichten. Zwei bestehende Innenhöfe wurden überdacht und mit Glaswänden eingefasst. Heute dienen sie hauptsächlich als Hörsaal und Werkstatt, aber auch viele andere Gemeinschaftsaktivitäten finden dort statt. Alles wurde mit viel Liebe zum Detail, aber zugleich auch mit großer Schlichtheit realisiert, da für die Arbeiten nur wenig Zeit zur Verfügung stand. Viele Leitungen und Kabel sind offen verlegt, was sicherlich nicht so gemacht worden wäre, wenn man gewusst hätte, dass die Fakultät dauerhaft hier bleiben würde. Das Gebäude als temporäre Lösung anzusehen, führte dazu, dass man sich bei der Gestaltung auf das absolut Notwendige konzentrierte. Das hat sich in diesem Fall als das genau Richtige erwiesen. Ich bin überzeugt, dass mein Gefühl von Freiheit, das ich sofort spürte, von der Leichtigkeit, Klarheit und Schlichtheit der Gestaltung kam, die viel Raum für Flexibilität und Aneignung lässt. Genau das haben wir beim Neubau in Nantes ebenfalls versucht umzusetzen: Wir wollten eine intelligente und offene Infrastruktur gestalten, die dauerhaft ist, aber eine große Freiheit für spätere Nutzungsänderungen ermöglicht. GRÉGOIRE FARQUET: Was macht ihr, wenn ihr es mit Bestandsgebäuden zu tun habt, bei denen es einfach kein Potential für freie Räume gibt? Haltet ihr dennoch an eurer Strategie fest? Befreit ihr so viel Raum wie möglich von Funktionen? ANNE LACATON: Jede Bestandssituation geht mit gewissen Beschränkungen einher, aber wir suchen immer nach Wegen, um so viel freien Raum wie möglich zu schaffen. Wir entfernen Trennwände, machen Anbauten … es gibt immer eine Lösung. Wichtig ist einfach, dass man nicht aufgibt, bevor man es zumindest versucht hat.
Anne Lacaton im Gespräch mit Momoyo Kaijima, Grégoire Farquet und Beatrix Emo