Multiple Sklerose von Wolfgang Weihe | Eine Einführung | ISBN 9783933378088

Multiple Sklerose

Eine Einführung

von Wolfgang Weihe
Buchcover Multiple Sklerose | Wolfgang Weihe | EAN 9783933378088 | ISBN 3-933378-08-7 | ISBN 978-3-933378-08-8
Betroffene mit Multipler Sklerose

Multiple Sklerose

Eine Einführung

von Wolfgang Weihe

Auszug

Einleitung
Anlass zu diesem Buch gab ein Gespräch, zu dem es Anfang der 90er Jahre zufällig in einem Bahnhof kam. Das war kurz vor der Einführung der Beta-Interferone in die MS-Therapie. Auf Einladung einer MS-Gruppe hatte ich in F... einen Vortrag gehalten, die Diskussion danach war eher unerfreulich gewesen, und zu allem Überfluss war mir dann auch noch der Zug vor der Nase weggefahren. Ich hatte zwei Stunden Aufenthalt und setzte mich in dem trostlosen Bahnhofsrestaurant an den letzten freien Tisch.
Als ich gerade ein Bier bestellt hatte, fragte mich eine sympathische Stimme, ob noch ein Platz frei sei. Sie gehörte zu einer jungen Dame, die ihren Freund in Berlin besuchen wollte und ebenfalls den Zug verpasst hatte. Wir plauderten miteinander, um uns die Zeit zu vertreiben, und natürlich fragte sie mich auch, was mich hierher verschlagen hätte. Als ich ihr von dem misslungenen Vortrag erzählte, schaute sie mich überrascht an und verriet mir dann etwas zögernd, dass sie selbst an MS leide.
Das überraschte mich, denn sie machte auf mich einen völlig gesunden Eindruck. Tatsächlich war sie aber bereits seit fünf Jahren erkrankt und hatte zwischenzeitlich insgesamt drei Schübe erlitten, die sich jeweils wieder vollständig zurückgebildet hatten. Sie war ein fröhlicher und unkomplizierter Mensch, und plauderte unbefangen über die Erfahrungen, die sie mit ihrer Krankheit gemacht hatte.
„Wie man mich damals aufgeklärt hat, vergesse ich nie“, sagte sie. „Ich sehe die Szene noch genau vor mir, wie der Chefarzt mit einem ganzen Rattenschwanz von Ärzten in mein Zimmer zur Visite kam. Erst hat er mich mit einer anderen Patientin verwechselt und mir eröffnet, dass die Gewebeprobe leider bösartig gewesen sei. Als ich ihm sagte, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse, denn man habe bei mir keine Gewebeprobe, sondern Rückenmarkswasser entnommen, hat er der Stationsschwester einen bösen Blick zugeworfen, als ob es ihre Schuld sei. Schließlich hatte er das richtige Krankenblatt in der Hand und teilte mir mit, im Rückenmarkswasser seien eindeutige Entzündungszeichen gefunden worden und somit sei an der Diagnose einer MS kein Zweifel mehr möglich.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ob Krebs oder MS, das war für mich dasselbe. Obwohl ich ja nicht viel Ahnung hatte, war mir eins klar: Ich war von einer unheilbaren, heimtückischen Krankheit befallen worden und würde über kurz oder lang im Rollstuhl landen. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich etwas gefasst hatte, aber da waren die Ärzte schon am Nachbarbett.
Auch später hielt es niemand für nötig, mit mir zu sprechen. Bei der Entlassung sagte mir ein junger Assistenzarzt auf meine Frage, was ich denn tun könne: »Eigentlich nichts. Aber vielleicht ist es ganz gut, wenn Sie ein paar Vitamine einnehmen.« Ich fühlte mich völlig allein gelassen.“
„Und Ihr Hausarzt?“
„Dem war die Krankheit ebenfalls unheimlich. Man merkte ihm deutlich an, dass er nichts damit zu tun haben wollte. Sein Kommentar war, nichts werde so heiß gegessen, wie es gekocht werde, und manchmal verlaufe die Erkrankung auch ganz langsam.“
„Sind Sie nicht zu einem Nervenarzt gegangen?“
„Doch! Aber der war besonders schlimm.. Es handelte sich um einen hageren gebeugten Mann, der so leise sprach, dass ich ihn kaum verstand. Nein, an der Diagnose sei kein Zweifel, sagte er mit gramerfüllter Stimme. Wie es weiter gehe? Das wisse er nicht. Der Verlauf sei unberechenbar, es gäbe Patienten, die seien fünf, zehn, manchmal sogar fünfzehn Jahre nach der Diagnosestellung noch gehfähig. Machen könne man nicht viel. Im Schub solle man sich mit Cortison behandeln lassen, und wenn die Schübe zu häufig würden, gebe es ein mildes Krebsmittel namens Imurek®, das manchmal ein wenig helfe. Alles andere sei Humbug und fauler Zauber. Dabei seufzte er tief und entließ mich.“
„Und getröstet hat Sie niemand?“
„Nein. Viele wollten mir ihr Mitgefühl zeigen, aber sie wussten nicht recht wie. Eigentlich haben alle die Angst, die in mir war, nur noch verstärkt. Typisch war der Kommentar einer Freundin, die sagte: »Ist es nicht schrecklich, auf einer Zeitbombe zu sitzen?« Aber ich wollte mich der Krankheit nicht ausliefern, und so fing ich an, alles zu lesen, was mir in die Finger kam. Ich hatte die Hoffnung, je mehr ich über die MS wüsste, desto eher könnte ich sie besiegen.“
„Und wie sind Sie an die Bücher herangekommen?“
„In der Stadtbücherei. Aber sie befriedigten mich nicht. Die Lehrbücher habe ich nur zum Teil verstanden; noch schlimmer aber waren die langweiligen und nichtssagenden Ratgeber, weil sie meine Intelligenz beleidigten. Oft hatte ich das Gefühl, man verschweige das Wesentliche, um den Betroffenen vor der Wahrheit zu schützen wie ein Kind vor der rauen Wirklichkeit.“
Sie schwieg.
„Und wie ging es weiter?“
„So, wie es viele MS-Betroffene kennen. Meine Friseuse erzählte mir von einem Wunderheiler. Er behandelte mich mit Arnica, Aloe vera und einer selbst erfundenen Mischung von Kräutern und knöpfte mir dafür viel Geld ab. Aber meine Fragen zu der Erkrankung konnte er mir nicht beantworten. Ich glaube, er wusste auch nicht viel darüber.
Trotzdem begann ich, mich langsam zu fangen - bis zum nächsten Schub. Diesmal geriet ich an jemanden, der sich auf MS spezialisiert hatte. Er hatte eine komplizierte Theorie entwickelt, nach der die weiße Substanz des Gehirns durch eine Fettsäure vergiftet wird, die im Körper aus Linolsäure entsteht. Ich durfte nur noch Reis, Kartoffeln, Käse und etwas Fisch essen. Alles andere war verboten. Man kann sich gar nicht vorstellen, welchen Heißhunger man nach kurzer Zeit auf ein einfaches Butterbrot bekommt. Ich habe mir mehrere Wochen lang alle Mühe gegeben, aber dann konnte ich einfach nicht mehr.“
„Hat er Ihnen helfen können?“
„Jedenfalls bildete sich auch dieser Schub wieder langsam zurück. Ob es die Behandlung oder der natürliche Verlauf war, vermag ich nicht zu sagen. Ich hörte von einem anderen Arzt und wechselte zu ihm. Während ich bei dem einen eine antivegetarische Diät einhalten musste, war es hier genau umgekehrt: Ich sollte mich ausschließlich mit pflanzlicher Rohkost ernähren und musste sogar auf meinen geliebten Kaffee verzichten, was für mich ein großes Opfer war. Als er auch noch verlangte, mir alles Amalgam entfernen zu lassen, ging ich nicht wieder hin.“
„Haben Sie sich eigentlich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen?“
„Ja. Schließlich wollte ich ja etwas gegen die Krankheit tun und suchte Mitstreiter. Aber da hockten Betroffene im wahrsten Sinne des Wortes und bliesen Trübsal. Einige davon hatten einen ausgesprochenen Sinn für Galgenhumor und lachten jedes Mal höhnisch, wenn jemand von einer neuen Therapiemethode sprach.“
„Das ist ja eine schreckliche Vorstellung.“
Sie lachte.
„Vielleicht übertreibe ich ein wenig. Jedenfalls fühlte ich mich nicht wohl. Ich brauchte Hoffnung, keinen Sarkasmus. Ich hatte das Gefühl, unaufhaltsam in einem Sumpf von Resignation zu versinken.“
„Und jetzt?“
„Jetzt verlasse ich mich nicht mehr auf das, was mir Ärzte und angebliche Spezialisten sagen. Ich weiß, dass ich mir nur alleine helfen kann.“
Sie sah mich prüfend an.
„Kränkt Sie das?“
Ich konnte nicht gerade sagen, dass ich besonders glücklich war über das, was sie berichtet hatte. Aber ich konnte ihr auch nicht widersprechen. Vieles von dem, was sie mir über Ärzte, Spezialisten, Wunderheiler und MS-Gesellschaften erzählte, schien mir mitten aus dem Leben gegriffen zu sein, und ich fühlte mich in meiner Rolle als Arzt unwohl.
„Warum haben Sie sich eigentlich auf MS spezialisiert?“ fragte sie nach einer Pause.
Ja, warum habe ich mich gerade auf die MS spezialisiert? Es war reiner Zufall. Eigentlich hatte ich Psychoanalytiker werden wollen (damals glaubte man noch, Psychoanalytiker seien besonders vollkommene Menschen) und bewarb mich deswegen um eine Stelle in einer großen Rehabilitationsklinik, die auch über eine deutschlandweit berühmte psychosomatische Abteilung verfügte. Da dort aber gerade keine Stelle frei war, wurde mir zunächst ein Platz in der Neurologie angeboten, wobei man mir zusicherte, den nächsten frei werdenden Platz in der Psychosomatik zu bekommen. Gerade in dieser Zeit schaffte sich die Klinik, der es wirtschaftlich sehr gut ging, als eine der ersten in Deutschland einen Kernspintomographen an, ein sündhaft teures Gerät, das sich damals nicht einmal Universitätskliniken leisten konnten. Kurz – ich ließ Psychotherapie Psychotherapie sein und erlag der Faszination der Technik.
Junge Ärzte können es vielleicht nicht mehr so richtig nachvollziehen, aber für uns bedeuteten die bildgebenden Verfahren, zunächst die Computertomographie, aber viel mehr noch die Kernspintomographie, eine Revolution in der Medizin. Zum ersten Mal war es möglich, einen Blick in den lebenden Körper zu werfen, wie es zuvor nur dem Chirurgen vergönnt gewesen war oder - nach dem Tod - dem Pathologen, und viele der Krankheiten, die man früher nur aufgrund von groben klinischen Untersuchungen erahnen konnte, für das bloße Auge sichtbar zu machen.