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UNIKATE 53: Mathematik
Herausforderung des Nichtlinearen
von Massimo Bertolini und weiteren, Vorwort von Gerhard StarkeAuszug
Dieser Band stellt eine Momentaufnahmeder Mathematik im Jahre
2018 aus Essener Sicht dar. Dabei
sind die Forschungsschwerpunkte
unserer Fakultät – zum Teil mehrfach
– vertreten: Algebraische Geometrie,
Didaktik, Analysis, Optimierung,
Stochastik und Numerik. Diese
Reihenfolge und die damit verbundene
Anordnung der Beiträge führt
zu einer Reise durch die Mathematik
von eher abstrakten zu eher angewandten
Themen.
Ein wichtiger Aspekt mathematischer
Forschung ist die Ergründung
übergeordneter Strukturen, die sich
vielfach in teils völlig unterschiedlichen
Gebieten anwenden lassen.
Mathematischen Modellen auf der
Basis partieller Differentialgleichungen
begegnet man in der Strömungsmechanik
genauso wie bei modernen
Methoden der Bildverarbeitung. Und
die zugrundeliegenden Resultate aus
der Variationsrechnung sind erstaunlich
ähnlich. Oft ist mathematische
Forschung durch solchen Anwendungsbezug
motiviert und orientiert
sich an konkreten Fragestellungen
aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften.
Im Blickpunkt steht für
den*die Mathematiker*in dabei die
innere Struktur der Abhängigkeiten
der beschriebenen physikalischen
Prozesse. Losgelöst von den technischen
Details der konkreten Anwendung
lassen sich mathematische
Objekte und deren Zusammenhang
untersuchen. Die hierbei bewiesenen
abstrakten Aussagen lassen sich nicht
selten dann wieder auf andere Situationen
anwenden.
Die meisten relevanten Prozesse
in Natur und Technik sind genau wie
die interessanten Zusammenhänge in
der Mathematik nichtlinear. Lineare
mathematische Modelle sind dagegen
in der Regel eher langweilig.
Übersetzt in das Anwendungsgebiet
Mechanik würde dies beispielsweise
bedeuten, dass eine Verdopplung der
ausgeübten Kraft auch die doppelte
Verformung nach sich zieht. Um
festzustellen, dass dies nicht besonders
gut mit der Realität übereinstimmt,
muss man sich nicht einmal
vom Schreibtisch weg bewegen. Es
reicht völlig, einen Radiergummi fest
zu drücken oder eine Büroklammer
zu verbiegen. Bei kleinen Kräften
wird sich die Büroklammer nach dem
Loslassen wieder in den Ausgangszustand
zurück bewegen, bei größeren
Kräften bleibt sie dauerhaft verformt.
Nichtlinearitäten treten in der
Mathematik in vielfältigen Formen
auf und sollen daher als roter Faden
dieses Heftes dienen.
In der algebraischen Geometrie
werden, grob gesprochen, Lösungsmengen
nichtlinearer Gleichungen
in Verbindung mit algebraischen
Strukturen gebracht. Oft ergeben
sich überraschende Zusammenhänge
zwischen verschiedenen mathematischen
Teilgebieten. Recht prominent
ist beispielsweise das sogenannte
Langlands-Programm, bei dem Aussagen aus der Zahlentheorie mit der
Darstellungstheorie von Gruppen
in Verbindung gebracht werden.
Ebenso unerwartet lassen sich
zahlentheoretische Methoden zur
Bestimmung von Singularitäten von
Higgs-Bündeln aus der theoretischen
Physik einsetzen. Diese unerwarteten
Querverbindungen lassen
sich nutzen, um offene Fragen in
einem Teilgebiet der Mathematik
mit bereits etablierten Methoden aus
dem jeweils anderen anzugehen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang
auch, wie solche abstrakten
mathematischen Konzepte im
menschlichen Gehirn verarbeitet
werden. Die Arbeitsgruppen der
Didaktik der Mathematik beschäftigen
sich hier mit der Fragestellung,
was in der Schule zum tiefliegenden
Verständnis mathematischer Zusammenhänge
nötig ist.
Die Verbindung zwischen
Geometrie und der Analysis von
Differentialgleichungen äußert sich
beispielsweise bei der Untersuchung
von Symmetrieeigenschaften. Oftmals
sind praxisrelevante Differentialgleichungen
nicht nur nichtlinear,
sondern auch nichtglatt. Dies klingt
auf den ersten Blick merkwürdig,
da man nichtglatte Funktionen
ja eben nicht differenzieren kann
und Differentialgleichungen somit
keinen Sinn zu machen scheinen.
Eine Verallgemeinerung des Begriffs
der Ableitung führt aber dazu, dass
sich gerade die besonders interessanten
nichtglatten Bereiche von
Lösungen entsprechender Differentialgleichungen
deutlich abzeichnen.
Moderne Algorithmen zur
Bilderkennung basieren auf solchen
mathematischen Prinzipien, die
sich auch als Optimierungsproblem
auffassen lassen. Vorsicht ist beim
Umformulieren nichtlinearer Optimierungsprobleme
geboten, da man
unter Umständen Lösungen verlieren
kann.
Ganz andere nichtlineare Zusammenhänge
treten in der Stochastik
auf, wenn es um die Lösung von
Entscheidungsproblemen mittels
tiefer neuronaler Netzwerke geht. In
der Evolutionsbiologie spielen wahrscheinlichkeitstheoretische
Modelle
ebenfalls eine wichtige Rolle, etwa bei
der Fragestellung, inwieweit Altruismus
für das Fortbestehen einer Population
förderlich ist.
Wandernde und pulsierende
Wellen in Wasser und Feststoffen
können sich sehr unerwartet verhalten,
was sich wiederum mit der
Modellierung mittels nichtlinearer
Differentialgleichungen erklären lässt.
Ähnliches gilt für die mathematische
Beschreibung des Verhaltens von
Packeis, bei der nichtlineare Modelle
aus der Strömungs- und aus der Festkörpermechanik
kombiniert werden.
Und schließlich führt die optimale
Beeinflussung von elektromagnetischen
Feldern zur Generierung supraleitender
Materialien auf hochgradig
nichtlineare Fragestellungen.
Abschließend soll noch darauf
hingewiesen werden, dass diese Auswahl
von Themen zwar eine große
Breite besitzt, aber durchgehend
Forschungsfragen der Mathematik
auf der Höhe der Zeit behandelt.
Bei allen Beiträgen leitet mindestens
einer der Verfasser derzeit ein Drittmittelprojekt
mit Bezug zur jeweils
vorgestellten Thematik, teilweise im
Rahmen von umfassenderen Forschungsverbünden
wie Schwerpunktprogrammen,
Sonderforschungsbereichen
oder Graduiertenkollegs.
Bleibt mir nur noch, Ihnen eine
inspirierende Lektüre zu wünschen!
Gerhard Starke,
Dekan der Fakultät für
Mathematik 2016–18