Auszug
Die Gegenwart der Vergangenheit
Ob es sinnvoll sei, heute noch über die nationalsozialistische
Vergangenheit zu schreiben, wurde ich während den Arbeiten
an diesem Buch immer wieder gefragt. Von Menschen, die der
Meinung sind, diese Vergangenheit sei nunmehr – nach mehr
als sechzig Jahren – tatsächlich 'vergangen'. Von Bekannten
und Freunden, die argumentierten, auch eine so belastete Geschichte
wie die unsere 'dürfe' einmal zu Ende sein. Ich wies
darauf hin, dass die meisten Deutschen – und es handelt sich
hierbei keineswegs um die ältere Generation – noch immer
nicht wahrhaben wollen, was ihre Väter und Großväter zwischen
1933 und 1945 angerichtet und zugelassen haben. Und
ich versuchte an Beispielen zu zeigen, welche kollektiven und
individuellen Anstrengungen unternommen wurden, um der
belasteten Geschichte zu entkommen. Dafür erntete ich häufig
Zweifel, Unverständnis, nicht selten heftigen Protest. Nicht alle
seien Nazis gewesen, nicht alle hätten Schuld auf sich geladen,
nicht allein die Deutschen Gräueltaten begangen. Nicht alle
Deutschen seien Täter, Nazis, Beteiligte, Komplizen gewesen.
Keine Frage: Am Tag Null nach Hitler gab es auch in
Deutschland Menschen, die Scham und Trauer empfanden
über das, was geschehen war, geschehen konnte. Doch Tatsache
ist auch, dass schon damals viele, gerade der Katastrophe
entkommen, das Erlebte und Geschehene verdrängten, leugneten,
relativierten, statt es im Bewusstsein der Verantwortung als
eigene Geschichte anzunehmen. Ein Volk auf der Flucht vor
der eigenen Vergangenheit. Damals, nach 1945, in den ersten
Nachkriegsjahren, in der Adenauer-Republik. Und heute?
Will die Nachkriegsgeneration, der ich angehöre, jene Generation,
die, um den deutschen Ex-Kanzler zu zitieren, mit
der 'Gnade der späten Geburt' gesegnet ist, nun endlich einen
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Schlussstrich unter diese Periode deutscher Vergangenheit ziehen?
Ist sie, die politisch und moralisch schuldlose Generation,
nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit der
NS-Diktatur und seinem Erbe? Wie steht sie zur schuldbelasteten
deutschen Geschichte? Will sie sich erinnern?
In diesem Buch geht es um Täter und Opfer. Schuld und
Sühne, um Versagen und Feigheit. Um Mut, Aufrichtigkeit und
Widerstand. Um Verdrängung und Verleugnung – um das Erinnern.
Im Mittelpunkt steht eine menschenverachtende, menschenvernichtende
NS-Institution, die es ohne die willfährige Unterstützung
und Mitwirkung von Juristen nicht gegeben hätte: der
Volksgerichthof. Zwar ist darüber in den vergangenen Jahren
geschichtswissenschaftlich, juristisch, politisch und publizistisch
umfangreich gearbeitet worden, was gleichermaßen auf
den Komplex 'Justiz während der NS-Diktatur' insgesamt zutrifft.
So ist es heute für den interessierten Leser möglich, den
fatalen Weg zu verfolgen, den die Justiz im nationalsozialistischen
Deutschland vom euphorischen Anfang bis zum zerstörerischen
Ende gegangen ist. Doch trotz umfangreicher Geschichtsschreibung
über Entstehung, Struktur, Funktion und
Alltag des Volksgerichtshofs gibt es nur wenig Literatur über
Leben und Wirken Roland Freislers. Mit seinem Namen ist die
wohl grausamste Ära des Terror-Tribunals verknüpft.
Freisler, 1942 bis 1945 Volksgerichtshofpräsident, doch bereits
1934 unermüdlicher Vordenker für ein nationalsozialistisches
Recht – seine Karriere, sein Einfluss, sein Tod werden
auf den folgenden Seiten nachgezeichnet. Wie wird aus einem
jungen Gymnasiasten aus kleinbürgerlich-konservativem Milieu
ein gnadenloser Todesrichter? Wie entwickelte sich seine
fanatische Gedankenwelt. Woran orientierten sich seine rigorosen
Rechtsauffassungen?
Aus einer rein persönlichen Biographie freilich ergeben sich
kaum neue Einsichten. Geschichte darf sich nicht auf perso-
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nale Verantwortung reduzieren, auf Prominenz und Privatheit.
Gerade die Person Freislers wurde in der Vergangenheit immer
wieder zum dämonischen Unmenschen der NS-Justiz schlechthin
stilisiert, häufig mit der Absicht, dadurch die Untaten seiner
brauen Richterkollegen zu relativieren. Nein, Freisler war nur
ein besonders konsequenter Vollstrecker nationalsozialistischer
Rechtspraxis.
Aus diesem Grunde habe ich es vorgezogen, von der Person
Freislers zu den Strukturen des NS-Rechts vorzudringen,
beziehungsweise zu beschreiben, wie beides miteinander korrespondierte
oder lapidar formuliert: wie beides zueinander
fand. Die Biographie Roland Freislers wird im Kontext seiner
Zeit geschildert, illustriert durch eine Vielzahl von Dokumenten,
zumal sich seine Rolle keineswegs nur auf die des VGHPräsidenten
beschränkte. Freisler als Anwalt, Staatsbeamter,
Fachpublizist und nationalsozialistischer Richter, der, ohne
jeglichen Opportunismus das Gesetz nicht einmal beugte, sondern
allenfalls im Sinne des Nazi-Regimes interpretierte und
gnadenlos anwendete. Wer als Angeklagter vor ihm stand, der
hatte – vor allem in den letzten Kriegsjahren – den Tod zu erwarten.
Dieses Buch handelt deshalb auch von Opfern, ihren
Lebensgeschichten, ihren Schicksalen. Ein umfangreiches Kapitel
dokumentiert ihre Todesurteile. Urteile als stumme Zeugen
einer gnadenlosen Justiz.
Bei den Recherchen für dieses Buch habe ich mit vielen Zeitzeugen
gesprochen. Menschen, die vor dem Volksgerichtshof
standen, zum Tode verurteilt wurden und allein deshalb
überlebten, weil das Kriegsende sie vor dem Fallbeil rettete.
Menschen, die als Nazi-Richter Gesetze anwendeten, erbarmungslose,
fanatische Urteile sprachen, nicht selten mit tödlichen
Konsequenzen für die Verurteilten. Einige von ihnen,
das war mein Eindruck, können mit dieser moralischen Hypothek
trotzdem gut leben. Sie fühlen sich als 'schuldlos Beladene
und Verstrickte', deren aufrichtiger Glaube an das Vaterland
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'von der Politik' missbraucht worden ist. Kaum einer meiner
Gesprächspartner bekannte sich zu seiner persönlichen Verantwortung,
fand Worte der Scham. Im Gegenteil: Zahlreiche
NS-Richter fühlten sich selbst als Opfer einer 'schicksalhaften'
Zeit. In den Gesprächen, die ich mit ehemaligen NS-Richtern
und Anklägern führte, wurden kaum Zweifel am eigenen Handeln
erkennbar. Eine nur schwer erträgliche Selbstgefälligkeit.
Was Hitlers eifrige Juristen betrifft, hat die Adenauer-Republik
nach 1945 mit ihnen Frieden geschlossen. Sie wurden – wie
so viele NS-Repräsentanten – nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen,
nicht zur Rechenschaft gezogen, nicht sonderlich
geächtet, schon gar nicht strafrechtlich verurteilt. Stattdessen
machten sie Karriere, wurden Landesgerichtspräsident, Oberstaatsanwalt
– mitunter sogar Ministerpräsident.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger
kam wegen der Beteiligung an Todesurteilen, die er als
Marine-Kriegsrichter verhängt hatte, 1978 in die Schlagzeilen,
was schließlich – freilich eher unfreiwillig – zu dessen Rücktritt
führte. Der Dramatiker Rolf Hochhuth prägte damals den
Begriff des 'furchtbaren Juristen'. Diese Juristen – soweit sie
noch leben mittlerweile betagte Herren – beharren auch heute
noch auf der Rechtmäßigkeit ihrer Urteile. Die beschämende
Rechtfertigung, 'was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht
sein', hatten vor Filbinger schon viele NS-Richter für sich
beansprucht. Filbinger selbst sah sich stets als Opfer einer Rufmordkampagne.
Die Diskussion wurde im Jahre 2007 erneut entfacht, als der
baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger
mit seiner Freiburger Trauer-Rede für den zuvor im Alter von
93 Jahren gestorbenen Ex-Marinerichter für Empörung sorgte.
'Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil, er
war ein Gegner des NS-Regimes', hatte Oettinger gesagt – und
niemand hatte ob dieser Ungeheuerlichkeit die Trauerfeier im
Freiburger Münster demonstrativ verlassen. Oettinger, von der
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Kritik an seiner Rede überrascht, gab sich danach ahnungslos.
Einem lokalen Radiosender hatte er mitgeteilt, seine Rede sei
'ernst gemeint und bleibt so stehen'. Zugleich bestätigte das
Stuttgarter Staatsministerium, dass der umstrittene Redetext in
enger Abstimmung mit dem Regierungschef entstanden sei.
Noch am Vorabend der Trauerveranstaltung habe Oettinger
historische Details recherchieren lassen. Die Rede sei von der
Grundsatzabteilung seines Ministeriums gemeinsam mit ihm
erarbeitet worden.
Eine Rede, die selbst die Bundeskanzlerin zwang, sich öffentlich
zu äußern. Sie ließ mitteilen, sie habe mit Günther Oettinger
telefoniert und ihm gesagt, 'dass ich mir gewünscht hätte,
dass neben der Würdigung der großen Lebensleistung von
Ministerpräsidenten Hans Filbinger auch die kritischen Fragen
in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zur Sprache
gekommen wären'. Sie hätte sich, so Angela Merkel, eine Differenzierung
'insbesondere im Blick auf die Gefühle der Opfer
und Betroffenen gewünscht'.
Aber auch die öffentliche Rüge der Kanzlerin machte den
nächsten rhetorischen Scharfschützen nicht klug – jedenfalls
nicht jenen, der in der politischen Arena Gladiatorenkämpfe
führen und Vasallentreue beweisen will. 'Jedes Wort war richtig,
da kann man nur fünf Ausrufezeichen dahinter machen', ließ
Georg Brunnhuber, CDU-Landesgruppenchef im Bundestag,
verlauten. Und Baden-Württembergs Finanzminister Gerhard
Stratthaus verteidigte seinen Chef ebenfalls vehement: 'Der
hat keinen Fehler gemacht' insistierte er. 'Filbinger war ein
Gegner des Nationalsozialismus und in Baden-Württemberg
ein anerkannter Mann und es ist äußerst schade, dass jetzt wieder
Diskussionen losgehen, von denen ich geglaubt habe, dass
sie erledigt seien', sagte der Christdemokrat im Deutschlandfunk
und verwies darauf, Oettinger habe 'vielen Menschen in
Baden-Württemberg aus dem Herzen' gesprochen.
Man könnte derlei Äußerungen als verbale Irrläufer gereizter,
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überarbeiteter Politiker abtun, wenn sich darin nicht ein strukturelles
Symptom abbilden würde: die nachträgliche Solidarität
mit den Tätern, die wiederholte Beleidigung der Opfer. In jedem
Fall ist es eine erlesene Geschmacklosigkeit und zeugt von
historischer Ahnungslosigkeit oder opportunistischer Dreistigkeit.
Was im 'Fall Oettinger' eindringlich demonstriert wurde, war
die Neuauflage der Legende, deutsche Richter seien zum Paragraphen-
Gehorsam verpflichtet gewesen. Tatsache ist: Deutsche
Richter haben zwischen 1933 und 1945 mit opportunistischer,
bisweilen fanatischer Kaltblütigkeit menschenrechtliche
Standards planmäßig und überlegt außer Kraft gesetzt. Keiner
der Juristen war dazu gezwungen worden. Sie handelten aus
eigenem Entschluss. Sie waren die juristischen Handlanger und
Vollstrecker des NS-Staates. Einige von ihnen leben noch unter
uns. Im hohen Alter, gut versorgt mit ebenso hohen staatlichen
Pensionen. Die meisten immer noch davon überzeugt, damals
nur ihre Pflicht getan zu haben.
Roland Freisler war einer der ihren. Er war keineswegs ein
Dämon, der aus der Hölle aufstieg, sondern er kam aus der
Mitte des Volkes. Seine Karriere war eine 'deutsche Karriere'.
Er war ein gnadenloser Vertreter einer gnadenlosen Justiz.
Ein Buch gegen das Vergessen soll es sein, denn die Vergangenheit
ist immer noch gegenwärtig.
Helmut Ortner Herbst 2008
Lesehinweis:
Über Vergessen und Verdrängen, über individuelle und kollektive Schuld der Kriegs- und
Nachkriegsgeneration, die Leistung des Rechts bei der Bewältigung von schuldbelasteter
Vergangenheit sowie die Möglichkeit von Vergebung und Versöhnung, verweise ich auf
Bernhard Schlink, 'Vergangenheitsschuld – Beiträge zu einem deutschen Thema', Diogenes, 2007.
Zum Fall Filbinger die Dokumentation von Wolfram Wette (Hrsg.) 'Filbinger – eine deutsche
Karriere', zu Klampen Verlag, 2006. Alle Zitate und Äußerungen in Zusammenhang mit
der Rede Günther Oettingers erschienen auf Focus online vom 13. April 2007. Zu den
Nachkriegs-Karrieren ehemaliger VGH-Richter verweise ich auf die Auflistung am Ende
dieses Buches.
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