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Vom Ich zum Wir
von Horst E RichterIm geschichtlichen Prozess konkurrieren ein egozentrisches und ein soziales Menschenbild miteinander, so auch in den Grundvorstellungen der Psychoanalyse. Nach den 70er Jahren haben wir eine vom Narzissmus geprägte Phase erlebt, individuelle Selbstverwirklichung, Rückgang von Bindungsbedürfnissen, Angst vor Nähe, Streben nach egozentrischer Unabhängigkeit. Seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre wachsen umgekehrt wieder Bedürfnisse nach Nähe, nach Verlässlichkeit in Beziehungen, nach verantwortlicher sozialer Anteilnahme. Entsprechend wechseln auch die Vorstellungen von psychischer bzw. psychosozialer Gesundheit und das Interesse an Familien- und Gruppentherapie. Bis in die Globalisierung hinein setzt sich der Gegensatz zwischen dem Egozentrismus der uneingeschränkten Marktrivalität einerseits und dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit und Fairness andererseits fort. Kann der Fortschritt einer Minderheit zur Beinahe-Allmacht das Ziel sein, oder muss nicht der Fortschritt zu höherer Humanität aus der Erkenntnis folgen, dass alle auf alle anderen angewiesen sind, dass also nur auf der Basis von Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit ein Voranschreiten zum Besseren möglich ist?