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Melancholie in MaßenLässt sich die Zeit ausschreiben wie eine Bauleistung? Ließe sich die Zeit ausschreiben wie eine Bauleistung, bekäme wer den Zuschlag? Sicher keine Politiker oder Lyriker. Ihnen ist gemeinsam, dass sie ständig die Vokabel ‚Zeit‘ in Anspruch nehmen. Zumeist mit jenem Feingefühl, mit dem Prostituierten begegnet wird. Die Zeit ist immer zu haben, immer zu gebrauchen, immer zu missbrauchen. Ob die Herausgeberinnen der Lyrik-Anthologie Ausgeschriebene Zeit das bedachten? Vielleicht. Vielleicht nicht! `Ausgeschrieben‘ assoziiert nicht unbedingt Konstruktives, Kreatives. Eher schon Gedanken an Ausgelaufenes, Leergelaufenes, an Vergangenes, Verlorenes. Mit dem Titel haben sich die Herausgeberinnen Kathrin B. Külow, Hanah Thiede und Heidrun Voigt kein Lorbeer verdient. Schade, zumal Jahre ins Land gingen, bevor die Lyrik-Anthologie ihren Druck erlebte. Schade, zumal in der Sammlung Autoren vereint wurden, die zum Umfeld der Berliner Neuen Gesellschaft für Literatur gehören oder deren Mitglieder sind. Das Buch will die Leser, die bereit sind für Entdeckungen und keine Wiederauflagen erwarten. Mit dem Abdruck bereits veröffentlichter Gedichte von Mario Wirz wird die Anthologie der Absicht nicht gerecht. Entsprochen wird der Absicht durch Verse polnischer wie slowakischer Verfasser, zu denen sich als Seelenverwandter der Dichter Henryk Bereska gesellt. Nichts ist damit über die Korrespondenz der Gedichte gesagt, die in der Anthologie Aufnahme fanden. Gemeinsamkeiten, die in Ausgschriebene Zeit auszumachen sind, haben andere Gründe. So manche Zeile wäre besser geeignet gewesen als Titel. Nicht nur, weil sie die Leser neugieriger gemacht hätten. Sie hätten treffender die Grundstimmung der Sammlung wiedergegeben. Die nachhaltige Grundstimmung formulierte Stefan Mueser in einem Widmungsgedicht: „Man lebt neben sich weiter“. So wortreich davon in der Verssammlung gesprochen wird, den Leser muss das nicht melancholisch stimmen. Obwohl Wolfgang de Bruyn „Ein Hauch von Melancholie“ wahrnahm, wie er in seinem Vorwort zu Ausgeschriebene Zeit meint. Melancholie hin, Melancholie her, nichts rechtfertigt, die Anthologie ungelesen liegen zu lassen. Zeit nehmen!
Ausgeschriebene Zeit
Lyrik-Anthologie der Neuen Gesellschaft für Literatur Berlin
von Sigrun Casper und weiteren, illustriert von Hanah Thiede, Vorwort von Wolfgang de Bruyn, herausgegeben von Heidrun Voigt, Hanah Thiede und Kathrin B KülowVorwort
„Es werden neue Formen von großer Rationalität aufziehen, aber niemand kann mich verpflichten, die Zukunft zu lieben.“ Wolf Jobst Siedler
Ein Hauch von Melancholie durchzieht vorliegenden Band, das mag an der Wahl der sechs Kapitelüberschriften liegen, mehr jedoch am Titel der Anthologie. Die leisen Selbstzweifel, ob denn die ausgedachte Wirklichkeit der ungeheuren Wucht, mit der die Realität tagtäglich auf die Menschen einstürzt, standhalten kann, machen das Vorhaben der drei Herausgeberinnen, die sich alle selbst und das nachdrücklich, zu Wort melden, sympathisch.
Grundlage für die Lyrik-Sammlung war eine Ausschreibung der Neuen Gesellschaft für Literatur zum Thema „Zeit“, die auch unter Nicht-NGL-Mitgliedern auf große Resonanz stieß. Das ewige Thema als gewichtige Klammer für auseinanderstrebende Biographien und Handschriften, die unterschied-licher nicht sein können. Da steht der ausgesetzte Dichter HEL, der konsequenterweise rein gar nichts von sich preisgibt, neben Hanah Thiede, Sigrun Casper oder Mario Wirz, dessen Märchen-Gedicht endet: „Es war einmal Zeit“. Henryk Bereska, anlässlich von ‘750 Jahre Literatur in Brandenburg‘ aufgestiegen in den Olymp der Musen und Grazien der Mark, erinnert an Zeiten von Verfolgung und Krieg. Der Kalifornier Mitch Cohen dagegen besingt, ganz im Stile der Beach-Boys, die Wiederkehr der Waschpolette, deren Zeit erneut gekommen scheint. Endzeitstimmig blinzeln die Rehe vom Standstreifen der Autobahn zum allerletzten Song von Tom Schulz, während Anne Gollin dem Sputnik und Weltall-Erde-Mensch nachhängt.
Wird hier festgehalten, was gerade noch zu halten ist, mit dem Missverständnis aufgeräumt, man müsse die Entwicklung noch immer vorantreiben, auf Reformen und Wachstum setzen, wo uns doch jeder Tag lehrt, dass das Gebot der Stunde bewahren heißt. Verfall und Niedergang sind nicht aufzuhalten, die Zeit ist ausgeschrieben, entleert, stillgelegt, wie Heidrun Voigt in „Schienenstrang“ schreibt.
Die trotz der zahlreichen Übersetzungen aus dem Slowakischen typisch Berliner Anthologie, die ihre Spannung aus der überraschend kontrastreichen künstlerischen Annäherung an das Thema bezieht, Lebensentwürfe wie Erfahrungen nicht vordergründig der Ost-West-Herkunft zuschreibt, macht eines deutlich: das Bedürfnis, sich gerade lyrisch mitzuteilen, ist ungebrochen, eine möglichst bleibende Spur zu hinterlassen ein häufig unausgesprochenes Ziel.
Die Zeit ist ausgeschrieben, womöglich noch öffentlich, und damit zu einer angebotenen Leistung, einer einzukaufenden Ware verkommen – oder bietet das Ende die Chance eines Neubeginns? Anfang wird immer sein, verspricht das zweite Kapitel. Tief höre ich jemanden seufzen, du liebe Zeit, du ungeliebte einzige Zeit, die wir haben. Und wenn wir das Leben lieben, schreibt Erich Fried, können wir nicht ganz lieblos gegen diese unsere Zeit sein. Wir müssen sie ja nicht genau so lassen, wie sie uns traf. Wolfgang de Bruyn
„Es werden neue Formen von großer Rationalität aufziehen, aber niemand kann mich verpflichten, die Zukunft zu lieben.“ Wolf Jobst Siedler
Ein Hauch von Melancholie durchzieht vorliegenden Band, das mag an der Wahl der sechs Kapitelüberschriften liegen, mehr jedoch am Titel der Anthologie. Die leisen Selbstzweifel, ob denn die ausgedachte Wirklichkeit der ungeheuren Wucht, mit der die Realität tagtäglich auf die Menschen einstürzt, standhalten kann, machen das Vorhaben der drei Herausgeberinnen, die sich alle selbst und das nachdrücklich, zu Wort melden, sympathisch.
Grundlage für die Lyrik-Sammlung war eine Ausschreibung der Neuen Gesellschaft für Literatur zum Thema „Zeit“, die auch unter Nicht-NGL-Mitgliedern auf große Resonanz stieß. Das ewige Thema als gewichtige Klammer für auseinanderstrebende Biographien und Handschriften, die unterschied-licher nicht sein können. Da steht der ausgesetzte Dichter HEL, der konsequenterweise rein gar nichts von sich preisgibt, neben Hanah Thiede, Sigrun Casper oder Mario Wirz, dessen Märchen-Gedicht endet: „Es war einmal Zeit“. Henryk Bereska, anlässlich von ‘750 Jahre Literatur in Brandenburg‘ aufgestiegen in den Olymp der Musen und Grazien der Mark, erinnert an Zeiten von Verfolgung und Krieg. Der Kalifornier Mitch Cohen dagegen besingt, ganz im Stile der Beach-Boys, die Wiederkehr der Waschpolette, deren Zeit erneut gekommen scheint. Endzeitstimmig blinzeln die Rehe vom Standstreifen der Autobahn zum allerletzten Song von Tom Schulz, während Anne Gollin dem Sputnik und Weltall-Erde-Mensch nachhängt.
Wird hier festgehalten, was gerade noch zu halten ist, mit dem Missverständnis aufgeräumt, man müsse die Entwicklung noch immer vorantreiben, auf Reformen und Wachstum setzen, wo uns doch jeder Tag lehrt, dass das Gebot der Stunde bewahren heißt. Verfall und Niedergang sind nicht aufzuhalten, die Zeit ist ausgeschrieben, entleert, stillgelegt, wie Heidrun Voigt in „Schienenstrang“ schreibt.
Die trotz der zahlreichen Übersetzungen aus dem Slowakischen typisch Berliner Anthologie, die ihre Spannung aus der überraschend kontrastreichen künstlerischen Annäherung an das Thema bezieht, Lebensentwürfe wie Erfahrungen nicht vordergründig der Ost-West-Herkunft zuschreibt, macht eines deutlich: das Bedürfnis, sich gerade lyrisch mitzuteilen, ist ungebrochen, eine möglichst bleibende Spur zu hinterlassen ein häufig unausgesprochenes Ziel.
Die Zeit ist ausgeschrieben, womöglich noch öffentlich, und damit zu einer angebotenen Leistung, einer einzukaufenden Ware verkommen – oder bietet das Ende die Chance eines Neubeginns? Anfang wird immer sein, verspricht das zweite Kapitel. Tief höre ich jemanden seufzen, du liebe Zeit, du ungeliebte einzige Zeit, die wir haben. Und wenn wir das Leben lieben, schreibt Erich Fried, können wir nicht ganz lieblos gegen diese unsere Zeit sein. Wir müssen sie ja nicht genau so lassen, wie sie uns traf. Wolfgang de Bruyn