
„Achtung, Kamera läuft! Ton ab!“ Aufgemacht und arrangiert wie eine exklusive Fernsehberichterstattung der heutigen Zeit, erleben die Hörspiel-Zuhörer die unglaublichen Abenteuer des Mr. Lemuel Gulliver quasi „live“. Begleitet wird der Zeitreisende von seinem väterlichen Freund, dem irischen Schriftsteller Mr. Jonathan J. Swift. Oder sollte man ihn vielleicht besser „Manager“ nennen?
Im Fernsehstudio ist jedenfalls alles vorbereitet. Während der Moderator Peter N. Swetzer in seiner übereifrigen und nervösen Art den Zuschauern an den Fernsehgeräten einen verständlichen Überblick dieser Sensation vermitteln möchte, beginnt Mr. Lemuel Gulliver, schüchtern, stockend und fast sprachlos, mit seiner Berichterstattung. Erst verhalten und still erzählt er von seinen Reisen und Erlebnissen auf der Insel Laputa. Mit seinen Schilderungen von Lilliputs fantastischer, anderer Welt fesselt er seine Zuhörer. Gulliver wird zu einem Riesen unter Zwergen und seine Größe verbreitet Angst. Es gelingt ihm nicht wirklich, die Kleingewachsenen von seiner Harmlosigkeit und seinem Friedenswillen zu überzeugen. Erst im Krieg gegen Blefuscu kann er die Menschen von Lilliput für sich gewinnen. Aber nicht alle, denn auch in dieser fremden Welt gedeihen Neid und Missgunst, auch hier gibt es Gut und Böse. Traurig beschließt Gulliver seine Flucht.
Doch Gulliver ist wissenshungrig und rastlos. Es folgen weitere Reisen. In Brobdingnag, dem Land der Riesen, gerät er selbst in die Zwergenperspektive und erlebt die Angst. Nur das Riesenmädchen Glumdalglitsch ist auf seiner Seite. Gulliver gibt nicht auf, sucht weiter nach fantastischen Rätseln und findet weitere Abenteuer. Er lernt Welten kennen, die den Phantasielosen verschlossen bleiben, wie „Laputa“ oder „Das Land der Houyhnhnms“, trifft die „Yahoos“ und landet in der „neuen Welt“, den „alten Kolonien“; also in Amerika, präziser: In New York, dem Sinnbild des Fortschritts, der Zukunft, der Entwicklung. Gelandet in der Jetzt-Zeit wird er auch hier zu einem Fremden, der mit seinen Fragen auf der einen Seite heiteres Interesse, auf der anderen Seite aber krasse Ablehnung und Ausgrenzung erlebt. So bleibt Gulliver am Ende die bittere Erkenntnis, dass jeder Fortschritt seinen Preis hat, jede Zeit ihre eigenen Fehler und die Menschheit über alle Welten hinweg eigentlich immer wieder die gleichen Probleme hat.
Eine philosophisch-soziologische Betrachtung der Menschheitsentwicklung von Jonathan Swift, dem großen Moralisten. Vor nunmehr 275 Jahren geschrieben und eigentlich ganz und gar nicht als Kindergeschichte entwickelt, entführt der Stoff die jungen Zuhörer jedoch sofort in phantasievolle neue Welten. Die verdrehten Namenserfindungen fordern sprachlich-akrobatische Fähigkeiten, bilden aber zugleich so etwas wie eine Geheimsprache einer verborgenen Welt. Vielleicht vergleichbar mit dem Zauber der Abenteuerromane von Jules Verne (ebenfalls bei IGEL Records als Hörspielbearbeitungen erhältlich).
Eine genial angelegte Produktion des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahre 1978, mit hervorragenden Sprechern wie Mogens von Gadow als Mr. Lemuel Gulliver, Karl Maria Schley als Mr. J. J. Swift, Hans-Jürgen Diedrich als tragischer Moderator Peter N. Swetzer. In weiteren Rollen glänzen u. a. Michael Schwarzmaier, Dieter Kettenbach, Dieter Kirchlechner, Veronika Faber, Joachim Höppner, Wolfgang Heß. Eine Hörspielbearbeitung von Willy Hochkeppel. Regie führte Werner Simon.
Für alle Kinder ab 10 Jahren, die Phantasie noch im Kopf blühen lassen wollen, und natürlich für Erwachsene, die noch nicht verlernt haben, auf Phantasieflügeln zu schweben.